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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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fröhlich und fröhliche Menschen mochte Harriet. Sie waren sehr laut, aber es war ein angenehmer Lärm. Einer gab seinem Kameraden einen Stoß, so dass dieser auf den Boden der Kutsche fiel. Harriet dachte schon, er habe sich wehgetan, doch nein, der Junge lachte. Alle lachten, und als sie sah, wie lustig das Ganze war, lachte sie mit. Sie musste den Daumen aus dem Mund nehmen, um richtig lachen zu können. Als die anderen das sahen, lachten sie noch mehr.
    Plötzlich war von vorn ein Klopfen zu hören.
    »Was ist denn los?«, fragte jemand. »Das ist Dermot.«
    Ein Junge steckte den Kopf nach draußen. »Da vorn dreht ein Polizist seine Runden«, alarmierte er die anderen. »Hört auf mit dem Lärm und geht in Deckung.«
    Sie kauerten sich alle hin, flüsterten und kicherten aber weiter, bis sie an dem Polizisten vorüber waren und wieder auftauchen konnten. Doch mit dem Gelächter war es nun vorbei. Alle schauten Harriet an.
    »Was sollen wir mit ihr machen?«
    »Darüber kann Bill sich den Kopf zerbrechen. Das ist seine Sache.«
    »Was ist eigentlich mit dem Chef passiert?«
    »Vielleicht konnte er allein entkommen …«
    »Ich hab ihn fallen sehen …«
    »Doch nicht etwa tot, o Mann …«
    »Bridie wird wissen, was man mit der Göre da machen muss.«
    »Bridie?«
    »Sie ist doch ein Mädchen. Also muss sie es wissen.«
    »Aber Bridie …«
    »Wir können uns nicht um die Kleine kümmern, so viel ist sicher.«
    »Wer ist sie überhaupt und zu wem gehört sie?«
    »Wenn ich das wüsste, Sean. Sie scheint aber zu wissen, was sich gehört, die Kleine.«
    »Schau nur, wie sie dasitzt, wie eine Dame …«
    »Sie hat sich nass gemacht.«
    »Teufel, das machen doch alle kleinen Kinder, oder? Du bist doch selber erst seit einem Jahr aus den Windeln raus – «
    »Was machen wir, wenn Bridie nicht aufwacht?«
    Schweigen. Alle schauten sie an. Sie lag regungslos in einer Ecke der Kutsche.
    »Ist sie erledigt?«
    »Bridie, die Johnny Rodriguez die Knochen aus dem Leib geprügelt hat?«, sagte Liam verächtlich. »Sie und erledigt? Niemals.«
    »Aber er hat auf sie geschossen …«
    »Und haben wir ihm nicht mit einem Nachttopf den Schädel eingeschlagen, diesem Dreckskerl?«
    »Hätten wir mehr Zeit gehabt, hätten wir ihn vorher noch gefüllt …«
    »Aber was machen wir nun mit der Kleinen?«
    Langes Schweigen. Harriet betrachtete sie alle fasziniert.
    »Ins Waisenhaus?«, schlug einer vorsichtig vor.
    Alle Blicke richteten sich auf ihn.
    »Johnny Coughland, du Dummkopf! Wir holen sie doch nicht aus dem einen Gefängnis raus, um sie dann in ein anderes zu stecken.«
    »Dann zu den Nonnen …«
    »Benutze deinen Kopf zum Denken, nicht deinen Hintern.«
    »Aber wir können uns doch nicht um sie kümmern.«
    »Und warum nicht?«
    »Nun, so kleine Kinder brauchen doch was zu essen …«
    »Sie ist aus dem Nuckelalter raus, brauchst ihr nicht deine knochige Brust zu reichen, Sean Macarthy.«
    »Ach, halt doch die Klappe!«
    »Also, sie kann das Gleiche essen wie wir. Kartoffelbrei, Hackepeter, Aal in Aspik. Ein Schluck Guinness würde ihr auch nicht schaden.«
    »Und Kleider und anderes Zeug …«
    »Was für Zeug? Wann hast du denn zum letzten Mal deine Klamotten gewechselt? Vorletztes Jahr, nach dem Gestank zu urteilen, den du verbreitest. Die Kleine hat doch prima Klamotten an. Die reichen ihr erst mal. Ehrlich, ihr seid mir vielleicht eine Bande von Schwarzsehern. Komm her, meine Prinzessin.« Liam nahm Harriet auf den Schoß, und da blieb sie sitzen, während die Kutsche Richtung Lambeth rollte. Den Daumen im Mund, staunte sie ihre neuen Gefährten an. Dann überkam sie ein Gähnen, und mit der Haltung einer Herzogin, die einem Diener eine Gunst gewährt, legte sie den Kopf an Liams Schulter und schlief sogleich ein.
     
    Goldberg lag auf dem Fußboden der Küche und lauschte angestrengt. Zwar tat ihm die Schulter höllisch weh, doch abgesehen davon war er unverletzt und sein Kopf war klar.
    Sie redeten im Wohnzimmer, vor allem Parrishs Stimme war zu hören: »… die Bäckerei Salomon an der Ecke – Brick Lane. Genau die, brennt den Laden nieder. Gleich dahinter gibt es ein Malergeschäft, da stehen Behälter mit Kerosin. Da müsst ihr die Menge hinlotsen. Wiegelt sie auf. Ich will die ganze Straße in Flammen sehen. Und zwar möglichst früh, noch ehe sie aufwachen. Aber jetzt los, bewegt euch. Die Übrigen helfen beim Packen. Charlie, hol eine Droschke vom Verleih. Ja, weck ihn ruhig auf. Wir verschwinden von hier,

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