Der Tiger im Brunnen
Schein des Kaminfeuers. Sie runzelte die Stirn. »Wäre es nicht besser, wenn wir Harriet zu uns nach Cowley mitnähmen«, womit sie ihr Haus in Oxford meinte. »Darum dreht es sich doch. Dieser Mensch will nur Harriet. Du bist ihm so viel wert wie der Dreck unter seinen Fingernägeln. Der Scheidungsantrag hat doch nur den einen Zweck, Harriet in seine Gewalt zu bringen.«
»Und das Sorgerecht zugesprochen zu bekommen. Das Gesetz lautet nämlich, dass, sofern das Kind unehelich geboren ist, die Mutter das Sorgerecht hat. Wenn die Eltern aber verheiratet sind, erhält es der Vater. So hat es mir der Anwalt erklärt. Es geht also wirklich allein um Harriet. Aber ich muss mich mit rechtlichen Mitteln verteidigen, Rosa. Ich muss diese Farce durchstehen, ich muss vor Gericht um sie kämpfen. Tue ich es nicht, dann entscheidet man automatisch zu seinen Gunsten und nimmt mir Harriet weg …«
Plötzlich und für sie selbst überraschend, brach Sally in Tränen aus. Sie waren allein im Zimmer, Harriet wurde gerade von Sarah-Jane gebadet. Rosa stand sofort auf und schloss die Freundin in ihre Arme, und Sally suchte diesen Halt wie noch nie bei jemandem seit Fredericks Tod.
»Aber warum nur?«, sagte sie, nachdem sie sich wieder etwas beruhigt hatte. Die beiden Frauen saßen nebeneinander auf dem alten Sofa. »Wenn ich das wüsste, könnte ich … ich weiß nicht … ihm etwas anderes anbieten, Geld vielleicht, oder ihn auf eine andere Art bekämpfen. Es ist dieses Nichtwissen, was mir solche Angst macht … Es ist so, als hätte man es mit einem Geist oder einem Wahnsinnigen zu tun … Und dass er diesen Plan schon seit so langer Zeit verfolgt, noch ehe es Harriet überhaupt gab. Dass mich jemand all die Jahre beobachtet hat …«
»Hast du alles überprüft?«
»Alles? Ich glaube schon … Was soll ich denn noch überprüfen?«
»Sommerset House. Das Personenstandsregister. Da müsste doch Harriets Geburt aufgeführt sein.«
Sally setzte sich aufrecht. »Ja, natürlich! Warum habe ich daran nicht gleich gedacht …« Doch sofort verfinsterte sich ihr Gesicht wieder und sie ließ sich in den Stuhl zurücksinken. Sally in dieser mutlosen Haltung zu sehen, war für Rosa neu.
»Er hat das Register gefälscht«, sagte sie müde, »da bin ich mir sicher. Ich gehe hin und prüfe es nach, aber ich weiß schon, was mich erwartet.«
»Nein«, widersprach Rosa, »ich mache das. Gleich morgen. Weißt du, wenn sie das alles schon eingefädelt haben, bevor Harriet überhaupt geboren war, dann kann es ihnen gar nicht um das Mädchen gehen. Dann tun sie es nur, weil sie dich damit an deiner verwundbarsten Stelle treffen.«
Sally dachte nach. Was Rosa sagte, leuchtete ihr zwar ein, machte das Ganze aber nicht verständlicher. Unwillkürlich blickte sie zur Wand hinüber. Rosa folgte ihrem Blick und sah das Einschussloch vom Vorabend. Sie hob die Augenbrauen.
»Ja«, gestand Sally freimütig, »ich habe mir wieder einen Revolver gekauft. Ich dachte …«
»Und ich dachte, du hättest genug von Revolvern«, mahnte Rosa sanft. »Nach dem ersten Mal.«
Mit dem »ersten Mal« meinte sie die Sache mit Ah Ling, dem chinesisch-holländischen Gangsterboss. Rosa war damals in der Nähe gewesen, aber zu spät gekommen, um den Schuss noch zu verhindern. Sally hatte die Pistole damals weggeworfen und gehofft, nie wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen.
»Es ist nur, weil … weil ich mich sicherer fühle … Nein, das ist es nicht. Ich bin wütend, Rosa. Mit einer Waffe kann ich … Ja, ich weiß, es ist falsch. Aber wenn ich Harriet nur dadurch retten kann, dass ich diesen Mann aus dem Weg räume, hätte ich keine Skrupel. Ich würde den Finger freudig an den Abzug legen. Und in der jetzigen Lage ist der Gedanke, es tun zu können, das Einzige, was mich davor bewahrt, völlig zu resignieren. Bin ich deswegen gleich eine Bestie, ein Verbrecher, ein Mensch ohne Moral? Das kümmert mich nicht. Ich werde nicht aufgeben. Ich werde nicht untätig zuschauen. Ich kämpfe für mein Kind vor Gericht, und wenn das alles nichts nützt, dann …«
Die Hände auf die Knie gestützt, saß sie in aufrechter Haltung da. Rosa betrachtete sie und legte dann ihre Hand auf Sallys Arm.
»Immerhin habe ich etwas herausgefunden«, sagte Sally. »Ich kenne jetzt Mr Beechs Adresse.«
»Und ich werde Harriets Geburtsurkunde besorgen«, sagte Rosa.
»Und dann ist da noch dieser Mr Lee in Spitalfields«, warf Sally ein. »Der steckt da irgendwie mit drin. Aber
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