Der Tigermann
Wahrnehmungsfähigkeiten sind viel zu stark. Er würde uns sofort entdecken. Innerhalb des Tempels hat er die ganze Macht Kalis, die seine eigene Kraft um ein Vielfaches verstärkt.«
»Innerhalb des Tempels? Nur innerhalb des Tempels…? Aber natürlich. In der Höhle mußte er vor uns fliehen. Wir müssen einen Weg finden, ihn aus dem Tempel zu locken. Dann steht zumindest er uns nicht mehr im Weg, wenn wir nach Mamselle Mara suchen, und wir können sie aus dem Tempel holen.«
Elis Augen weiteten sich. Hugo hatte auf Anhieb den einzigen Angriffspunkt gefunden.
Außerhalb des Tempels waren Saivas Kräfte nicht viel mehr als die eines normalen Menschen. Außerhalb des Tempels konnte Eli ihn schlagen, noch dazu mit Hilfe der Brüder.
Die Frage war nur, wie konnte er es anstellen, den Priester aus dem Tempel zu locken? Eine Gegenüberstellung zu erzwingen. Gegenüberstellung! Das war es!
Wieder weiteten sich Elis Augen. Diesmal hatte er die Lösung gefunden. Eine Gegenüberstellung – eine Herausforderung!
»Saiva könnte es sich nicht leisten, eine Herausforderung zu ignorieren«, sagte er sanft.
»Eine Herausforderung, M’sieu? Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht.«
»In früheren Zeiten, vor allem in Osteuropa, war das etwas fast Alltägliches. Wenn ein Adept seine Macht beweisen wollte, forderte er einen anderen heraus, sich mit ihm zu messen.«
»Und dabei ging es nur um den Machtbeweis?«
»Aber nein, mon vieux. Der Verlierer mußte in die Dienste des Siegers treten, und zwar entweder auf eine bestimmte vorher abgemachte Zeit, oder für immer. Die einzige Herausforderung in England, über die ich etwas in meinen Büchern gefunden habe, begab sich zwischen der Gräfin von Salisbury und Abaddon von Syrien – beide selbstverständlich vom Linken Pfad. Der Rechte Pfad hat sich immer gegen dieseHerausforderungen ausgesprochen. Allein der Gedanke, einem anderen dienstbar sein zu müssen, ist für seine Adepten unvorstellbar.
Ja, Hugo, ich glaube, unsere einzige Hoffnung, Saiva ins Freie zu locken, ist durch eine Herausforderung – und der Preis für den Gewinner wird Mara sein.«
Hugo machte ein besorgtes Gesicht.
»Aber wenn M’sieu verliert…«
»Fern von Kalis direktem Einfluß habe ich sicher nichts zu befürchten. Ich werde die Brüder um ihre Unterstützung bitten. Die Herausforderung ist unsere einzige Hoffnung, Hugo.«
Eli verspürte eine merkwürdige Hochstimmung, als er sich weiter mit seinem Plan befaßte. Aber obwohl er so überzeugt getan hatte, nagte doch ein wenig Angst im hintersten Winkel seines Gehirns. Was war, wenn er die Macht des Hohenpriesters unterschätzt hatte? Was war, wenn er doch verlor?
»M’sieu«, wandte Hugo ein wenig verlegen ein. »Es ist natürlich nicht vorstellbar, aber – aber wenn Sie doch verlieren würden! Und wenn nicht – was ich natürlich annehme, aber ich habe wenig Vertrauen in Saivas Ehre. Glauben Sie wirklich, daß er Mamselle Mara freigibt, wenn er verliert?«
Eli lächelte nachsichtig.
»Natürlich wird er sein Wort nicht halten. Damit rechne ich auch nicht. Deshalb werden wir unsere Vorkehrungen treffen. Ganz sicher wird keiner der Priester und Akolyten sich das Schauspiel entgehen lassen. Sie werden alle mit Saiva ins Freie kommen, um zuzusehen. Während dieser Zeit dürfte es einfach sein, das Gebäude zu betreten, das Mädchen zu suchen und herauszubringen.«
Ein Grinsen breitete sich über Hugos ernste Züge.
»Aber natürlich, natürlich. Ich ziehe mich jetzt an. Ich will bereit sein, Mamselle in Sicherheit zu bringen. Aber was ist, wenn Saiva die Herausforderung nicht annimmt?«
»Das wird er nicht wagen. Es wird eine öffentliche Herausforderung sein, und alle Bürger Terrahpurs werden davon wissen. Sie nicht anzunehmen, würde den Verlust seines Gesichts bedeuten. Wer könnte noch Vertrauen in ihn oder in Kali haben, wenn er sich weigerte? Aber was dich betrifft, mein lieber Hugo – nein, ich glaube, das ist nichts für dich. Deine Verbrennungen werden dich noch mehrere Tage in deiner Bewegungsfreiheit einschränken. Aber warte
- es gibt eine Methode, die den Heilprozeß beschleunigen könnte.« Eli blickte den Franzosen nachdenklich an, dann fuhr er fort: »Bleib ruhig liegen. Entspanne dich völlig. Gut. Und jetzt schau mir in die Augen.«
Hugo tat wie geheißen. Er bewegte sich nicht und blickte seinen Herrn vertrauensvoll an. Elis Augen schienen zu wachsen und zu leuchten. Die Pupillen weiteten sich und zogen sich wieder
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