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Der Tod des Maerchenprinzen

Der Tod des Maerchenprinzen

Titel: Der Tod des Maerchenprinzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Svende Merian
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hartnäckig hinterherläuft? Der muß ja schon unter Verfolgungswahn leiden. Er meint ja, es hat mit seiner Person gar nichts zu tun. Es macht sich nur an ihm fest. Aber es hat mit ihm zu tun. Nur: Er kann es gar nicht glauben! Wahrscheinlich sagt er sich: Das kann gar nicht wahr sein. Die meint gar nicht mich. Er kann es gar nicht glauben, daß eine Frau ihn so gerne mag, daß sie vier Monate lang einen Korb nach dem anderen kassiert und trotzdem weitermacht. Nicht kleinzukriegen.
    Aber die Frau meint ihn. Vielleicht sollte er sich mal umgucken und feststellen, daß da nicht seit vier Monaten einer neben ihm ist, den sie gemeint haben könnte. Da steht keiner hinter ihm. Die Frau hat ihn gemeint!
    Mein Verhältnis zu Arne hat sich innerhalb weniger Wochen ganz wesentlich gewandelt. Ich fange plötzlich an ihn zu «verstehen».
    Es hat mich sehr lange verletzt, daß Arne kein Vertrauen zu mir hat. Jetzt fange ich an zu begreifen, daß er es auch viel schwerer hat, zu jemandem Vertrauen zu fassen, als ich. Daß Arne achtzehn Jahre lang im Erziehungsheim aufgewachsen ist. Daß er vom dritten Lebensmonat an sein Dasein in einem schreienden Haufen Säuglinge gefristet hat, die mit dreißig oder mehr Kindern auf eine «Bezugsperson» angewiesen sind. Eine sogenannte «Bezugsperson», die es wahrscheinlich gerade schafft, sich neben Füttern und Wickeln fünf Minuten Streicheleinheiten pro Kind abzuringen. Oder noch nicht einmal das. Eine «Bezugsperson», die dreimal täglich beim Schichtwechsel eine andere Gestalt annimmt. Eine «Bezugsperson», die alle paar Jahre sowieso total vom Fenster weg ist, wenn das Kind nämlich mal wieder in eine andere Altersgruppe wechselt.
    Ich erinnere mich an meine eigenen Kinderheimaufenthalte, die zu meinen schlimmsten Kindheitserlebnissen gehören. Mit sechs Jahren zum erstenmal. Allein in einem Haufen fremder Menschen, die alles Erdenkliche machen, einen nur nicht lieb haben. Jede menschliche Erfahrung kann man da machen. Wie man hin- und hergeschubst wird, keine Rechte hat, Sachen essen muß, die man hinterher sowieso wieder auskotzen muß. Bestraft wird, wenn man beim Mittagsschlaf redet. Bestraft wird, wenn man nachts redet. Verprügelt wird, weil man den Stuhl nicht schnell genug beiseite geräumt hat. Verprügelt wird vor allen anderen Kindern im vollen Eßsaal. Bestraft wird, indem man nachts stundenlang eingewickelt in ein viel zu heißes Zimmer gesetzt wird. Bestraft wird, indem wir mit drei Mädchen nachts in ein Jungszimmer gesteckt werden, die die ganze Nacht davon reden, daß sie gleich zu uns rüberkommen und uns nackend ausziehen. Wo einem Sätze aus den Briefen an die Eltern rausradiert werden, weil sie der Heimleitung nicht passen.
    Wirklich viel kann man da lernen, nur nicht, wie es aussieht, wenn einen jemand lieb hat. Das erfährt man dort bestimmt nicht. Und das waren nur vierwöchige Kinderheimaufenthalte. Arne war im Erziehungsheim. Achtzehn Jahre lang. Vom dritten Lebensmonat an. Lernt man da Ehrlichkeit? — Arne hat selbst mal gesagt, daß er immer nur angeschissen worden ist. Lernt man, ehrlich zu sein, wenn alles, was man aus sich raus läßt, gegen einen verwandt wird? Achtzehn Jahre lang. Lernt man da, Vertrauen zu entwickeln? Kann ich von Arne erwarten, daß er mir gegenüber Vertrauen hat? Jetzt begreife ich plötzlich, daß es richtig ist, Arne einen Vertrauensvorschuß zu geben. Daß es eine richtige Entscheidung war, daß ich ihm neulich gesagt habe: Ich habe aber Vertrauen zu dir. Ein rein menschliches Vertrauen. Nachdem er mir gerade wieder unterbreitet hatte, daß er sich anguckt, was jemand politisch macht, bevor er sich ihm öffnet.
    Da hab ich ihm gesagt, daß ich finde, daß er politisch manchmal ganz schön Scheiß macht, ich aber trotzdem auf einer rein menschlichen Ebene Vertrauen zu ihm habe, weil ich ihn eben auf dieser menschlichen Ebene in den letzten Monaten kennengelernt habe. Wo er mir dann entgegengeholzt hat: Wir kennen uns keine paar Monate. Wir kennen uns höchstens ein paar Wochen, würd ich sagen. Das denkt er vielleicht. Aber ich kenne ihn seit Monaten. Habe mich wirklich Monate mit seiner Person auseinandergesetzt. Er kennt mich vielleicht wirklich nur ein paar Wochen. Weil er sich nicht so mit mir beschäftigt hat. Aber warum holzt er mir das so entgegen? Damit ich nicht auf die Idee komme, mir einzubilden, ich würde ihn «kennen». Wieder seine Angst vor mir.
    Und ich habe ihm hartnäckig entgegnet, ich würde ihm aber

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