Der Tod fährt Riesenrad - Kneifl, E: Tod fährt Riesenrad
verginge.
Alle seine Wünsche würden in nächster Zeit in Erfüllung gehen, hatte ihm die schöne Sylvia prophezeit. Sie hatte Recht gehabt. Denn als er zu Fuß den Ring entlangschlenderte, herrschte Weltuntergangsstimmung in der Kaiserstadt. Der Himmel war tiefschwarz. Kein einziger Stern war mehr zu sehen. Der Mond hatte sich hinter den dunklen Wolken versteckt.
Plötzlich hatte Gustav das Gefühl, verfolgt zu werden. Er blieb mehrmals stehen und drehte sich um. Die wenigen Leute, die noch unterwegs waren, schenkten ihm keinerlei Beachtung, versuchten schnellen Schrittes noch trocken zu ihrem Ziel zu gelangen. Eine flackernde Gaslaterne warf ihr bläuliches Licht auf die Silhouette einer mit einem Schal vermummten Frau. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und bewegte sich nicht. Als er ein zweites Mal hinsah, hatte sich die Frau in Luft aufgelöst. Ich bilde mir was ein, dachte er. Da ist niemand. Kurz bevor er bei den Reitstallungen ankam, begann es zu blitzen und zu krachen. Die letzten hundert Meter legte er im Laufschritt zurück.
Sonntag, 5. Juli 1897
11
Seine Tante weckte ihn am Sonntag. Normalerweise kam sie nie ohne anzuklopfen in sein Zimmer. An diesem Morgen stürmte sie durch die Tapetentür herein, setzte sich ans Fußende seines Bettes und presste einen weißen Umschlag an ihre Brust.
Der verschlafene Gustav befürchtete, sie hätte womöglich Herzbeschwerden, denn ihr Gesicht war rot angelaufen und sie atmete schwer.
„Da… das ist ge… gerade gekommen. Li… lies.“ Sie reichte ihm ein Telegramm.
„Zulassung von Frauen an der Wiener Universität Freitagabend im Parlament beschlossen. Leider nur an der Philosophischen Fakultät. Hochachtungsvoll Dorothea.“
Gustav kannte Dorothea seit ihrer Geburt. Ihre Mutter Valerie Palme war die beste Freundin seiner Tante gewesen. Als Elfjähriger hatte Gustav den Clown für die kleine Dorothea gespielt. Er erinnerte sich noch an das herzliche Lachen des süßen Babys. Die Familie war später nach Hamburg gezogen, aber Tante Vera hatte den Kontakt mit ihrer Freundin Valerie nie aufgegeben.
Dorothea war mittlerweile eine attraktive fünfundzwanzigjährige Frau. Gustav mochte ihr Lachen nach wie vor, aber sie war ihm zu gescheit, zerbrach sie sich doch andauernd ihr hübsches Köpfchen über soziales Elend, die Unterdrückung der Frauen und die medizinische Unterversorgung der vierundfünfzig Millionen Einwohner der Habsburgermonarchie. Gustav war überzeugt, dass auch Dorothea keinerlei Interesse an ihm hatte. Sie wollte keinen Ehemann, sondern Ärztin werden.
Ihr Vater, ein jüdischer Arzt aus Hamburg, hatte sich bei der Cholera-Epidemie 1892 in seiner Heimatstadt der Ärmsten der Armen angenommen und leider angesteckt. Nach seinem Tod kehrten seine Frau und seine Tochter nach Wien zurück. Valerie, die als Gasthörerin Medizin studiert und mit ihrem Mann zusammengearbeitet hatte, aber kein medizinisches Diplom besaß, kümmerte sich auch in Wien um die medizinische Versorgung der armen Leute in den Vorstädten, bis sie von den Herrn Professoren der Wiener Universitätsklinik als Kurpfuscherin verklagt wurde. Daraufhin verfiel sie der Melancholie und starb vor zwei Jahren in geistiger Umnachtung. Seit dem Tod ihrer Mutter kämpfte Dorothea für die Zulassung von Frauen an der Medizinischen Fakultät.
Gustav war bewusst, was Dorotheas Nachricht seiner geliebten Tante bedeutete. Er umarmte sie stürmisch und zog sie zu sich aufs Bett.
„Lass mich sofort los!“ Ihr Kreischen klang durchaus vergnügt.
„Fräulein Blaustrumpf, Fräulein Blaustrumpf …“, neckte Gustav sie. „Jetzt kannst du endlich deinen eigenen Doktor machen. Die Karolys sollten mindestens einen Akademiker in der Familie haben, hat Großvater oft gesagt.“
Seine Tante errötete. Als junge Frau hätte sie gern studiert. Deshalb war sie sehr enttäuscht gewesen, als Gustav sein Studium der Rechtswissenschaften aufgeben musste. An vielen Abenden hatte sie seine juridischen Bücher aufmerksam studiert und sicher mehr von dem schwierigen Stoff behalten als er. Doch das Streben der Frauen nach Bildung und Studium war damals als „Wissensplunder“, „Bildungsfusel“ und „nichtsnutzige Afterbildung“ verhöhnt worden, obwohl fast vierzig Prozent der Frauen arbeiteten, meist als ungelernte Heim- und Fabriksarbeiterinnen ihre Familien mit Stricken und Nähen über Wasser hielten.
Albert von Karoly hatte großen Wert darauf gelegt, dass seine beiden Töchter eine gute
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