Der Tod hat einen Namen
Chopin meine."
Pamela beschloß, Mrs. Callison von ihrer nächtlichen Vision zu erzählen. "Ich erwachte von dieser Melodie", sagte sie. "Ich sah ein junges Mädchen mit dem Rücken zu mir am Flügel sitzen."
"Wie sah es aus?" Auf Kathleens Wangen erschienen hektische Flecken. "Um alles in der Welt, Miß Lindsay, wie sah dieses Mädchen aus?"
Bevor Pamela noch antworten konnte, öffnete sich die Tür und Mr. Callison kam herein. "Was tun Sie hier, Miß Lindsay?" fragte er bar jeder Höflichkeit.
"Du hast kein Recht, so unhöflich gegen Miß Lindsay zu sein, Charles", fiel ihm seine Frau ins Wort. "Ich habe um den Besuch von Miß Lindsay gebeten. Bitte, laß mich mit ihr alleine. Es ist sehr wichtig für mich."
Charles Callison straffte die Schultern. "Wie du willst, Kathl een", sagte er, warf Pamela einen erbitterten Blick zu und ging hinaus.
"Männer", seufzte Kathleen Callison, nachdem sich die Tür hinter ihrem Mann geschlossen hatte. "Charles macht sich viel zu viele Sorgen um mich. Ich bin stärker, als er glaubt." Sie sah wi eder Pamela an, dann griff sie nach einem Foto, das in einem silbernen Rahmen auf dem Nachttisch stand. "Das ist meine Tochter Dinah", sagte sie. "Sah so das Mädchen aus?"
Pamela hatte die Fotografie zuvor nicht beachtet. Sie nahm sie in beide Hände und betrachtete sie lange. "Ich habe das Mädchen nicht von vorne gesehen", erwiderte sie, "aber der Gestalt nach und der Farbe der Haare, könnte es Ihre Tochter gewesen sein."
"Dinah ist vor zehn Jahren an ihrem siebzehnten Geburtstag spurlos verschwunden", berichtete Mrs. Callison.
Pamela sagte nichts davon, daß Victor bereits mit ihr darüber gesprochen hatte. Sie spürte, wie verzweifelt Kathleen war, wie sie darauf hoffte, irgendeinen Hinweis auf Dinahs Verbleib zu bekommen.
"Ich habe niemals die Hoffnung aufgegeben", fuhr Mrs. Callison fort, "obwohl alles dafür spricht, daß Dinah tot ist. Die Polizei meinte, Dinah könnte weggelaufen sein, aber dazu gab es keinen Grund. Sie war ein fröhliches, ausgeglichenes Mädchen. Außerdem, wenn sie fortgelaufen wäre, hätte sie zumindest einige ihrer Sachen mitgenommen und sich auch umgezogen. Wer läuft schon im Ballkleid von Zuhause weg?"
"Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll, Mistreß Callison", meinte die Pianisten, "aber als ich diese Melodie spie lte, kam es mir vor, als hätte ein fremder Geist von mir Besitz ergriffen. Irgendwie war ich nicht mehr Herr meiner selbst."
"Meine Tochter liebte das Klavierspiel." Kathleen griff wieder nach Dinahs Foto. "Sie hat schon sehr früh angefangen, eigene Melodien zu komponieren. Dieses Stück, das Sie heute gespielt haben, war ihre letzte Arbeit. Zum ersten Mal hatte sie sich an eine Sinfonie gewagt. Außer uns wußten nur sehr wenige Me nschen davon."
Pamela stand auf. Unruhig ging sie auf und ab. "Mit anderen Worten, ich habe in der vergangenen Nacht eine Sinfonie gehört, die außerhalb von Windhaven niemand kennt." Sie stützte sich auf die Vorderseite des Bettes. "Ich begreife das nicht." Mit beiden Händen griff sie sich an die Stirn. "Ich hatte nie zuvor ein derart iges Erlebnis."
Kathleen Callison sah sie schweigend an. "Und doch scheinen Sie in der Lage zu sein, mit Dinah Verbindung aufzunehmen", sagte sie schließlich. "Fast sieht es aus, als wollte meine Tochter Ihnen etwas mitteilen." Sie schluckte. "Allerdings heißt das auch, daß ich keine Hoffnung mehr haben darf, sie eines Tages wiede rzusehen." Ihr Blick streifte wieder Dinahs Foto, dann straffte sie die Schultern. "Gut, damit werde ich mich abfinden müssen, aber ich werde nicht eher ruhen, bis ich weiß, was ihr zugestoßen ist."
"Das kann ich sehr gut verstehen." Pamela setzte sich wieder neben ihre Gastgeberin aufs Bett. "Vermutlich gibt es nichts Schlimmeres als Ungewißheit über das Schicksal eines geliebten Me nschen."
Mrs. Callison stellte das Foto auf den Nachttisch zurück. "Wollen Sie mir helfen, Miß Lindsay?" fragte sie und ergriff die Hand der jungen Frau.
"Gerne." Pamela nickte.
"Dann bleiben Sie ein paar Wochen als Gast auf Windhaven. Vielleicht setzt sich Dinah wieder mit Ihnen in Verbindung. Ve rmutlich versucht sie schon seit Jahren, sich uns mitzuteilen, aber weder ich noch mein Mann oder Victor besitzen die geringste mediale Begabung."
Pamela spürte, welche Verantwortung plötzlich auf ihren Schultern lag. Sie durfte sich ihre Entscheidung nicht leicht m achen. Im Moment hatte sie zwar keine weiteren Verpflichtungen und sie
Weitere Kostenlose Bücher