Der Tod heilt alle Wunden: Kriminalroman (German Edition)
in der Kindheit denken, als sie, eifrig bestrebt, Vater Kerrigan nicht zu enttäuschen, die Grenzen der Tatsachen verschwimmen ließ, damit sie ihm von bedeutsamen Sünden erzählen konnte. Mit dem Einsetzen der Pubertät verschwammen die Grenzen dann immer noch, ihre Motive aber hatten sich ins Gegenteil verkehrt.
»Ich hab aus dem Fenster geschaut und dem Gewitter zugesehen, und unten auf dem Rasen war Miss Denham …«
»Einen Moment«, sagte Novello. »Alle haben gesagt, es war schwarz wie die Nacht, es goss in Strömen, und der Wind trieb Blätter und anderes Zeug durch die Luft. Du musst sehr gute Augen haben.«
»Ja, hab ich«, sagte Minnie nicht ohne Selbstgefälligkeit. »Und wenn die Blitze runtergekommen sind, war es so hell wie am Tag.«
»Während der Blitze hast du also … was genau gesehen?«
»Miss Denham. Warum wollen Sie mir nicht glauben?«, beharrte das Kind wütend.
»Minnie, es geht nicht darum, was ich glaube«, erwiderte Novello ganz ruhig. »Sondern darum, was du glaubst. Vergiss nicht, worüber wir uns hier unterhalten. Es geht um eine wirklich schreckliche Angelegenheit. Das ist kein Spiel. Also erzähl mir, was du gesehen hast.«
Die Predigt verfehlte ihre Wirkung nicht.
Etwas zögernd fuhr das Mädchen fort: »Ich hab wirklich jemanden gesehen, und ich glaube, es war Miss Denham. Jedenfalls könnte sie es gewesen sein, und jemand war bei ihr … ein Mann …«
»Wer?«
»Das weiß ich nicht!«, rief sie. »Er ist mir irgendwie bekannt vorgekommen, aber ich hab ihn nicht richtig gesehen. Sie sind aus den Sträuchern zwischen dem Rasen und dem Grillplatz gekommen …«
Novello versuchte sich die Lage des Hauses, des Rasens und des Grills ins Gedächtnis zu rufen.
»Das muss ja an die dreihundert Meter entfernt gewesen sein. Und das im spitzen Winkel. Du hast gute Augen.«
»Sag ich doch«, erwiderte das Mädchen.
»Und das hast du alles im Licht von einem Blitz gesehen?«
»Ja. Und beim nächsten waren sie verschwunden.«
Zeit, um hier aufzuhören, dachte sich Novello. Sie hatte bereits wesentlich mehr als nur vorgefühlt. Wenn man sie deswegen zur Rechenschaft zog, wäre es von Vorteil, wenn sie eine entscheidende Entdeckung vorweisen könnte – aber die bisherigen Informationen waren nichts Halbes und nichts Ganzes.
»Haben noch andere diese beiden Leute gesehen – dein Bruder oder Miss Heywood vielleicht?«
»Ich glaube nicht.«
»Und du hast denen auch nicht erzählt, was du gesehen hast?«
»Nein. Ich meine, ich hab doch nicht gewusst, dass es wichtig sein könnte, oder?«
»Das weißt du jetzt auch nicht«, sagte Novello. »Gut. Danke. Und jetzt verschwinde.«
»Muss ich denn nichts unterschreiben? Und hätten Sie das nicht alles auf Tonband aufnehmen müssen?«, wollte das Mädchen wissen.
»Später«, sagte Novello. »Du wirst das alles vielleicht noch mal über dich ergehen lassen müssen, aber dann in Anwesenheit deiner Mum oder deines Dads. Dann wird auch vielleicht alles aufgenommen, und du musst unterschreiben. Das hier, das war so eine Art Probelauf, okay?«
»Okay«, sagte Minnie, rührte sich aber nicht. »Und wo fahren Sie jetzt hin?«
»Was geht dich das an?«
»Vielleicht könnte ich ja mitkommen. Ich kenne hier alle Abkürzungen.«
»Jetzt mach mal halblang. Wer braucht denn hier in so einer kleinen Stadt Abkürzungen?«, sagte Novello, die Stadtpflanze, für die jede Ansiedlung mit weniger als fünfzigtausend Einwohnern ein Dorf war. »Und solltest du nicht im Bett sein?«
»Ich werde bei meinem nächsten Geburtstag zehn!«, erklärte Minnie indigniert.
»Was willst du also? Ein Telegramm von der Queen? Jetzt raus, oder ich muss dich verhaften.«
Sie sah, wie die Augen des Mädchens ob dieser Möglichkeit funkelten, daraufhin verpasste sie ihr einen unsanften Schubs, der sie durch die offene Tür auf den Rasen beförderte.
»Bis dann«, rief Novello, zog die Tür zu, drehte den Zündschlüssel um, drückte das Gaspedal durch, ließ den Wagen auf dem Kies herumschleudern und raste über die Anfahrt davon.
Im Rückspiegel sah sie, dass das Mädchen auf die Beine gekommen war, dem Wagen hinterherlief und ihr etwas verärgert zubrüllte.
Natürlich hörte sie nichts, und dem Mädchen von den Lippen abzulesen war so gut wie unmöglich.
Trotzdem glaubte sie die Worte zu erkennen: »Sie haben auch einen Breitarsch!«
9
Z iel erreicht«, ertönte die Etepetete-Frauenstimme voller Zuversicht.
»Verdammte Lügnerin«, raunzte Edgar
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