Der Tod heilt alle Wunden: Kriminalroman (German Edition)
unabhängiger Geistesart, betrachtete er die Welt durch die gleichen dunkel getönten Brillengläser. Kurz, auch er war ein Yorkshireman. Apropos, wahrscheinlich war er als ein Whitby sogar von blaublütigerer Yorkshire-Abstammung als der dicke derbe Drecksack. Was war Dalziel schon für ein Name? Der Namen klang nach Schottentuch, ihm haftete der Odeur der durchgeknallten Macs jenseits der Grenze an.
Daher, auch wenn er sich dem Dicken nie widersetzen und ihm ein
Verpiss dich!
entgegenschleudern würde, kehrte mit jedem Meter, den er zwischen sich und der furchteinflößenden Gestalt des Superintendenten brachte, mehr und mehr der Sinn für das zurück, was ihm, der nunmehr seit dreißig Jahren Gesetzeshüter in Sandytown und dem Distrikt gewesen war, rechtmäßig zustand.
Ja, er würde dem Befehl Folge leisten, mochte er seiner Meinung nach noch so sinnlos und dämlich sein. Aber er würde ihn ausführen, allerdings in seiner Zeit und in seinem Tempo. Zuvor aber wollte er sein ihm gesetzlich zugestandenes Recht auf Erfrischung geltend machen, indem er nach Hause eilte zu den mittäglichen Bratenresten, die ihm seine Frau ungeachtet der Jahreszeit oder des Wetters jeden Sonntagabend zubereitete. Dann machte er sein gesetzlich zugestandenes Recht auf Ruhe geltend, indem er sein halbstündiges Nickerchen in seinem Lieblings-Armsessel hielt, gefolgt vom gesetzlich zugestandenen Recht auf Erholung, indem er sich seine Lieblings- US -Krimiserie in der Glotze anschaute.
Und erst dann, erfrischt und erholt, würde er hinausgehen zur Millstone Farm, um zu bestätigen, wovon er felsenfest überzeugt war, dass nämlich dort niemand zu finden wäre außer Nagetiere, Fledermäuse und Spinnen.
»Du kannst doch jetzt nicht mehr raus!«, herrschte seine Frau ihn an, als er gegen halb zehn die Stiefel anzog.
»Ich hab’s dir doch gesagt. Muss noch einen Blick auf Millstone werfen.«
»Bis du dort bist, ist es stockfinster. Und im Stockfinsteren will man dort nicht sein«, sagte sie. »Hat das nicht bis morgen Zeit?«
Nach einem langen, vorwiegend für sie bestimmten Ringen mit sich selbst, das notwendig war, bevor jeder Yorkshireman mit ein wenig Respekt vor sich selbst einen weiblichen Ratschlag annahm, nickte er und sagte: »Zufällig hast du recht. Aber wenn das Telefon klingelt, gehst du ran, und wenn es dieser fette Dreckskerl ist, dann sagst du ihm, dass ich außer Haus bin!«
In aufrechter Stellung, im Licht und in der Wärme des Wohnzimmers, fühlte sich dieser mutige Entschluss gut an. Liegend im Bett aber, in der Dunkelheit des Schlafzimmers, kam er ihm sehr schnell als tollkühn vor und wurde immer tollkühner, je öfter er in der ruhelosen Nacht aus dem Schlaf fuhr.
Nicht lange nach Anbruch der Morgendämmerung stand er daher auf, entschlossen, die sinnlose Aufgabe hinter sich zu bringen, bevor er seine Saumseligkeit erklären musste.
Und während er den langen, von tiefen Furchen durchzogenen und von hohen Gräsern überwucherten Weg zur Millstone Farm entlangfuhr, kam ihm der Gedanke, dass er das letzte Mal hier gewesen war, als er die traurige Nachricht von Hog Hollis’ Tod übermittelt hatte. Er war damals von Hen, dem einzigen Bewohner, nachdem der Erfolg seinen Bruder zur Sandytown Hall und zur Lordschaft der Hundert geführt hatte, nicht ins Haus gebeten worden, obwohl es ein ungemütlicher Tag gewesen war und Windböen heftig an seinem ungeschützten Rücken zerrten. Daher hatte er nicht viele Worte gemacht.
»Hog ist tot.«
»Tot«, hatte Hen geantwortet.
Ohne Fragezeichen, dennoch hatte der Beißer es als Bitte um Bestätigung aufgefasst.
»Aye«, hatte er gesagt. »Schlaganfall. Die Schweine haben schon an ihm rumgefressen, als man ihn gefunden hat.«
»Na, dann.«
Und die Tür wurde geschlossen.
Vielleicht hatte sich Hen Hollis in die Küche zurückgezogen und sich vergangene, glücklichere Tage mit seinem Bruder ins Gedächtnis gerufen. Vielleicht hatte er geweint.
Wahrscheinlicher aber, laut den Gerüchten im Ort, war er durchs Haus geschlendert und hatte sich gedacht, das alles gehöre jetzt ihm.
Falls dem so war, erwartete ihn ein größerer Schock als die Nachricht vom Tod seines Bruders.
Die Enthüllung, dass alles an Hogs Witwe fiel, hatte Hen den Rest gegeben. Unter den Einheimischen kursierten auch gleich genügend Erklärungen für Hogs Entscheidung.
»Hog hat von seiner Familie nicht viel gehalten. Alan, hat er immer gesagt, ist der Einzige, dem er zutrauen würde, einen
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