Der Tod ist mein Nachbar
Ansagen über einlaufende Züge oder Entschuldigungen wegen eingetretener Verspätungen von sich, um 9.58 Uhr folgte eine prächtige Litanei aller Bahnhöfe, an denen der Personenzug nach Reading hielt: Radley, Culham, Appleford, Didcot, Parkway, Cholsey, Goring, Streatley …
Cholsey …
Mrs. Lewis liebte Agatha Christie, und er hatte immer wieder versprochen, mit ihr auf den Friedhof von Cholsey zu gehen, wo die berühmte Kriminalautorin begraben war. Bisher war es leider beim guten Vorsatz geblieben.
Es herrschte lebhafter Betrieb, ständig verließen Fahrgäste durch die automatischen Türen rechts von Lewis den Bahnhof, gingen die Stufen zum Taxistand und zu den Bussen in die Innenstadt hinunter, ständig kamen Reisende durch die Tür, steuerten die Fahrkartenschalter, die Telefone, die Information an oder gingen links an Lewis vorbei, um Zeitungen, Süßigkeiten, Taschenbücher bei Menzies oder Sandwiches, Kuchen oder Kaffee an dem benachbarten Schnellbüffet zu kaufen.
Von seinem Platz aus konnte Lewis eine der Anzeigetafeln sehen. Der Zug um 10.15 Uhr nach Paddington würde demnach pünktlich abgehen, Verspätungen waren nicht angezeigt.
Allerdings hatte er bisher niemanden gesehen, der auch nur entfernt dem Mann auf dem Foto ähnelte, das er in seinen Daily Mirror gesteckt hatte.
Um 10.10 Uhr fuhr der Zug auf Bahnsteig eins ein, und die Fahrgäste begannen einzusteigen. Noch immer fiel Lewis niemand auf, der ungeduldig herumstand, als warte er auf eine Begleiterin, niemand, der unruhig alle paar Sekunden auf seine Armbanduhr sah oder ständig den Ausgang beobachtete und die Menschen musterte, die aus den Taxis stiegen.
Lewis ging zum Bahnsteig hinüber und lief rasch die vier Wagen des Turbo Express nach Paddington ab, wobei er sich das Gesicht, das er sich heute früh so genau eingeprägt hatte, nochmals in Erinnerung rief. Den Mann aber, der sich einmal mit der Ermordeten vor die Linse eines Paßfotoautomaten gestellt hatte, fand er nicht.
Buchstäblich in letzter Minute kam ihm eine Idee.
Ein junger Zugschaffner lehnte aus einem der hinteren Fenster, während ein scheppernder Wagen mit Erfrischungen an Bord gehievt wurde. Lewis wies sich aus und zeigte ihm das Foto.
»Haben Sie den Mann oder die Frau schon einmal in dem Zug nach Paddington oder einem anderen Zug gesehen?«
Der junge Mann mit dem Pickelgesicht besah sich seinen Dienstausweis so mißtrauisch wie eine möglicherweise fehlerhaft ausgestellte Fahrkarte. Mit der gleichen Gewissenhaftigkeit prüfte er das Foto.
»Ja. Ihn jedenfalls. Wollen Sie wissen, wie er heißt, Sergeant? Ich hab den Namen von seiner Railcard behalten.«
14
Eine gut gebundene Krawatte ist der erste ernsthafte Schritt ins Leben.
(Oscar Wilde)
Morse fuhr mit dem 2A-Bus ins Zentrum. Am Carfax stieg er aus und ging die High hinunter bis zu Shepherd and Woodward’s, wo er sich eine Treppe tiefer in den Frisiersalon von Gerrard’s begab.
»Wie immer, Sir?«
Morse war froh, daß er von Gerrard selbst bedient wurde. Nicht weil der Besitzer ein so viel kundigerer Haarkünstler gewesen wäre als seine attraktiven Mitarbeiterinnen, sondern weil Gerrard ein glühender Bewunderer von Thomas Hardy war und ein im Laufe eines langen Lebens erworbenes geradezu enzyklopädisches Wissen über die Werke dieses großen Mannes besaß.
»Ja, bitte.« Morse besah sich im Spiegel mißgelaunt das dünner werdende Haar, das in den letzten Jahren von Eisengrau zu Schlohweiß mutiert war.
Als Morse aufgestanden war und sich mit einem kleinen Handtuch die Härchen vom Gesicht gewischt hatte, holte er ein Foto hervor, das er Gerrard zeigte.
»War der schon mal bei Ihnen?«
»Nicht daß ich wüßte. Soll ich die Mädchen fragen?«
Morse überlegte. »Nein, lassen Sie es erst mal gut sein.«
»Es gibt ein Gedicht von Hardy, es heißt ›The Photograph‹. Erinnern Sie sich, Mr. Morse?«
Morse hatte es nur noch vage im Gedächtnis. »Da müssen Sie mir ein bißchen auf die Sprünge helfen …«
»Früher konnte ich es auswendig, aber …«
»Wir werden eben alle älter«, räumte Morse ein.
Gerrard blätterte in seinem erstaunlichen Gedächtnis.
»Hardy hatte gerade ein Foto einer alten Flamme verbrannt – er wußte nicht mal, ob sie noch lebte, sie gehörte zu seiner fernen Vergangenheit, aber die Sache berührte ihn sehr, ihm war, als ob er sie irgendwie damit tötete, daß er das Foto verbrannte … Moment noch … ich glaube, jetzt hab ich’s:
Denn sieh –
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