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Der Tod ist mein Nachbar

Der Tod ist mein Nachbar

Titel: Der Tod ist mein Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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hatte er wohl verstanden. Und schon bei ihrer ersten Begegnung hatte sie begriffen, daß dieser Mann mit den viel zu früh weiß gewordenen Haaren ein sehr ungewöhnlicher Mensch war.
    »Die Pillen finde ich gut«, hatte er gesagt.
    »Ach ja?«
    »Daß sie verschiedene Farben haben, meine ich. Weiß, rosa, braun-orange. Eine sehr gute Sache. Vermittelt einem ein Stück Selbstvertrauen. Früher habe ich immer gedacht, daß Selbstvertrauen stark überschätzt wird. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher …«
    Sie antwortete nicht, aber die Worte blieben ihr in Erinnerung, und sie freute sich schon auf ihr nächstes Gespräch mit ihm.
    Bis Dienstag abend waren bei Morse die Blutzuckerwerte dramatisch gesunken. Und am Mittwoch vormittag zur Kaffeezeit kam Schwester McQueen an sein Bett und fühlte ihm mit den Fingern der rechten Hand fast automatisch den Puls.
    »Werde ich bis zum Wochenende überleben?«
    »Verdient hätten Sie es nicht.«
    »Alles wieder in Ordnung?«
    Sie schnaufte, aber es klang nicht unfreundlich.
    »Wissen Sie, warum wir Ihnen Besucher verboten haben?«
    »Weil Sie mich ganz für sich haben wollten?« mutmaßte Morse.
    Sie schüttelte langsam den Kopf, und um die empfindsamen Lippen lag ein etwas wehmütiges Lächeln.
    »Nein. Dr. Matthews hatte den Eindruck, daß Sie sich zu viele Gedanken über das Leben und über Ihre Arbeit machen – vielleicht auch noch über andere Sachen. Er wollte nichts riskieren. Besucher sind immer ein bißchen stressig.«
    »Mich hätte sowieso keiner besucht.«
    »Aber das stimmt doch gar nicht!« Sie stand auf. »Jeden Tag haben vier Leute angerufen – pünktlich wie eine regelmäßige Verdauung.«
    Morse sah auf.
    »Vier?«
    »Ein gewisser Lewis, ein gewisser Strange, ein gewisser Blair. Alle von der Polizei, glaube ich.«
    »Sagten Sie nicht vier?«
    »Richtig. Und eine gewisse Jane, die für Sie arbeitet, wie sie sagt. Scheint ein sehr liebes Mädchen zu sein.«
     
    Während er sich zurücklegte und sich über den Kopfhörer vom Klassiksender berieseln ließ, wurde ihm wieder bewußt, wie elend er offenbar noch war, da ihn nahezu alles – ein freundlicher Blick, ein freundliches Wort, ein freundlicher Gedanke, ja, sogar der Gedanke an einen freundlichen Gedanken – fast zu Tränen rühren konnte. Vergiß es, Morse! Vergiß dich selbst, und vergiß deine Krankheit. Jedenfalls eine Weile. Er griff nach den ABC Murders , die er in der dürftigen Stationsbibliothek gefunden hatte. Agatha Christie hatte er schon immer gern gelesen: Sie bot ihren Lesern von der ersten Seite an ein richtig schönes kniffliges Rätsel. Vielleicht half ihm die Lektüre ein bißchen bei dem kniffligen Rätsel, das in der Welt da draußen auf ihn wartete …
    ABC.
    Alexander Bonaparte Cust.
    Adele Beatrice Cecil.
    Ann Berkeley Cox …
    Fünf Minuten später war Morse eingeschlafen.
     
    Am Donnerstag nachmittag setzte sich eine schlanke, ein bißchen zickige junge Diätassistentin zu Morse ans Bett und redete sehr schnell, sehr sachlich und viel zu ausführlich über Kalorien und Karotten und Kohlehydrate.
    »Und wenn Sie einmal in der Woche wirklich ganz große Lust auf ein Bier haben, können Sie es ruhig trinken, das kann Ihnen eigentlich nicht schaden.«
    Die arme Seele von Chief Inspector Morse stöhnte lautlos auf.
    Am nächsten Morgen kam der Chefarzt noch einmal vorbei. Der Tropf war längst entfernt, die Blutzuckerwerte gingen allmählich auf ein beherrschbares Maß zurück, der Blutdruck war merklich gesunken.
    »Sie haben großes Glück gehabt«, sagte Matthews.
    »Verdient habe ich es nicht«, räumte Morse ein.
    »Stimmt auffallend.«
    »Wann kann ich raus?«
    »Nach Hause? Vielleicht morgen. In den Dienst? Das überlasse ich Ihnen. Ich an Ihrer Stelle würde vierzehn Tage Urlaub machen – allerdings bin ich auch bedeutend vernünftiger als Sie.«
     
    Am Samstag vor dem Mittagessen saß Morse bereits angezogen im Gang der Geoffrey Harris-Station und wartete auf den Krankenwagen, als Schwester McQueen auftauchte und sich neben ihn setzte.
    »Es tut mir fast leid, daß ich wegmuß«, sagte Morse.
    »Werden wir Ihnen fehlen?«
    » Sie werden mir fehlen.«
    »Wirklich?«
    »Dürfte ich – dürfte ich Sie hier anrufen?« fragte Morse schüchtern.
    »Wie heißt es so schön: Rufen Sie nicht an – wir melden uns.«
    »Sie werden mich also anrufen?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht doch nicht. Ist ja auch nicht wichtig. Wichtig ist jetzt, daß Sie ein bißchen auf

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