Der Tod kommt nach Pemberley: Kriminalroman (German Edition)
»Ich mag es nicht kompliziert, Darcy. Wir beide arbeiten nun schon seit einigen Jahren als Friedensrichter, und ich glaube, wir verstehen uns. Ich bin mir sicher, dass Sie Ihre Pflichten ebenso gut kennen wie ich meine. Ich bin ein schlichter Mensch. Wenn jemand ohne Zwang ein Geständnis ablegt, pflege ich ihm zu glauben. Aber wir werden ja sehen – ich sollte keine Theorien aufstellen, ehe wir nicht die Tatsachen kennen.«
Wenige Minuten später wurde Darcys Pferd gebracht. Er schwang sich in den Sattel, und die Kutsche fuhr an. Sie machten sich auf den Weg.
5
E s hatte elf Uhr geschlagen. Elizabeth zweifelte keine Sekunde daran, dass sich Sir Selwyn sofort nach Pemberley begeben würde, sobald er von dem Mord erfahren hatte, und beschloss, nach Wickham zu sehen. Der schlief zwar höchstwahrscheinlich, aber sie wollte sich Klarheit darüber verschaffen, ob alles in Ordnung war.
Vier Schritte vor der Tür zögerte sie plötzlich. Sie wurde von einer Selbsterkenntnis ergriffen, die sie der Ehrlichkeit halber hinnehmen musste. Es gab einen komplizierteren und triftigeren Grund, Wickham sehen zu wollen, als die bloße Pflicht einer Gastgeberin, einen Grund, der sich wahrscheinlich auch schwerer rechtfertigen ließ. Ihr war klar, dass Sir Selwyn Hardcastle Wickham verhaften würde, und sie hatte nicht die Absicht mit anzusehen, wie er von Polizisten und vielleicht sogar in Fesseln abgeführt wurde. Wenigstens diese Demütigung wollte sie ihm ersparen. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sie einander jemals wiederbegegneten, wenn er Pemberley erst einmal verlassen hatte, und die Aussicht, diesen letzten Anblick von ihm für immer in Erinnerung behalten zu müssen, schien ihr unerträglich: der gutaussehende, liebenswürdige und galante George Wickham heruntergekommen zu einer schändlichen, blutbesudelten, betrunkenen Gestalt, die lauthals Flüche ausstieß, während man sie über die Schwelle von Pemberley zugleich schob und zerrte.
Sie gab sich einen Ruck. Nachdem sie angeklopft hatte, öffnete Bingley, und sie staunte nicht schlecht, als sie auch Jane und Mrs. Reynolds am Bett stehen sah. Auf einem Stuhl stand eine Schüssel mit von Blut verfärbtem Wasser. Mrs. Reynolds trocknete sich gerade an einem Tuch die Hände ab und legte es über den Rand der Schüssel.
»Lydia schläft noch«, sagte Jane, »aber wenn sie aufwacht, möchte sie bestimmt zu Mr. Wickham, und ich wollte nicht, dass sie ihn so sieht, wie er war, als er herkam. Lydia hat das Recht, auch dann zu ihrem Mann vorgelassen zu werden, wenn er bewusstlos ist, aber Captain Dennys Blut auf seinem Gesicht wäre zu viel für sie gewesen. Ein Teil davon könnte von ihm stammen – er hat zwei Kratzer an der Stirn und mehrere an den Händen, aber sie sind nur oberflächlich. Er hat sie sich wahrscheinlich zugezogen, als er durchs Gestrüpp lief.«
Elizabeth fragte sich, ob es klug gewesen war, Wickhams Gesicht zu waschen. Sir Selwyn wollte Wickham bestimmt in dem Zustand sehen, in dem man ihn über die Leiche gebeugt gefunden hatte. Doch es verwunderte sie nicht, dass Jane es getan und Bingley es unterstützt hatte. Unter all der Sanftheit und Anmut ihrer Schwester verbarg sich eine wilde Entschlossenheit, und wenn sie etwas als richtig erkannt hatte, brachten sie keine Argumente von ihrem Vorhaben ab.
»War Dr. McFee bei ihm?«, fragte Elizabeth.
»Er hat ihn vor etwa einer halben Stunde untersucht und kommt noch einmal, wenn Mr. Wickham aufgewacht ist. Wir hoffen, dass er bis dahin ruhig bleibt und etwas essen kann, ehe Sir Selwyn eintrifft, aber Dr. McFee hält das für unwahrscheinlich. Er konnte Mr. Wickham nur dazu bringen, einen kleinen Schluck von dem Schlaftrunk zu sich zu nehmen, doch da dieses Mittel sehr stark ist, wird Mr. Wickham wohl mehrere Stunden erholsame Ruhe haben.«
Elizabeth trat ans Bett und blickte auf Wickham hinunter. Dr. McFees Trunk hatte seine Wirkung getan. Das Röcheln war ebenso verschwunden wie der Alkoholgestank; Wickham schlief tief wie ein Kind, atmete aber so flach, dass man ihn für tot halten konnte. Mit dem gesäuberten Gesicht, dem dunklen, wirr auf dem Kissen liegenden Haar und dem aufgeknöpften Hemd, das den schmalen Hals enthüllte, sah er aus wie ein junger, verwundeter, vom Kampf erschöpfter Ritter. Wirre Gedanken schossen Elizabeth durch den Kopf, als sie ihn so betrachtete. Unwillkürlich kehrten Erinnerungen zurück, die so schmerzlich waren, dass sie sich jedes Mal vor sich selbst
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