Der Tod macht Schule: Bröhmann ermittelt wieder (German Edition)
Mal, wenn sie ein kurzes «So» ausstießen und nach ihren Jacken griffen, um den Aufbruch vorzubereiten, konnte ich trotz größter Anstrengung die Tränen nicht zurückhalten. Mir war es peinlich, ich war doch schon zwölf, tapfer, keine Heulsuse mehr, und eine Blinddarmoperation war doch nichts Schlimmes. Jedenfalls sagten das alle. Doch für mich war es sehr schlimm, und dafür schämte ich mich noch mehr. Ich fühlte mich in diesem riesigen, sterilen, erbarmungslos weißen Apparat so verloren, dass mir die Angst vor dem Alleinsein den Magen umdrehte. Ich teilte ein Zimmer mit Herrn Bugspecht, der den ganzen Tag Volkslieder aus einem Transistorradio hörte und mir von Besuchen bei Prostituierten erzählte, was mich genauso verstörte wie die Frage der Krankenschwester vor meiner OP, ob bei mir eine Rasur im Schambereich schon vonnöten sei.
Als ich heute Vormittag die Gießener Augenklinik betrat und mir gleich dieser spezielle Geruch in die Nase stieg, hatte ich große Probleme, diese alten Bilder und Gefühle abzuschütteln. Auch jetzt, wo ich das Gespräch mit Frau Dr. Ellen Murnau hinter mir habe und mich auf dem Weg zur Vogelsbergschule befinde, lastet eine gewisse Beklemmung auf mir.
Ellen Murnau wird noch eine zweite Augenoperation über sich ergehen lassen müssen, wenn die Sehkraft am linken Auge gerettet werden soll.
Ich war erleichtert, dass wir uns nicht in ihrem Krankenzimmer unter Aufgabe jeglicher Intimsphäre unterhalten mussten, sondern einen kleinen Raum zur Verfügung gestellt bekamen, in dem wir würdevoll miteinander sprechen könnten.
Mir saß eine tapfere traurige Frau gegenüber, die wie immer Haltung bewahrte, gefasst wirkte und alle meine Fragen beantwortete. Ich fühlte mich schuldig, dass ich vor zwei Wochen zu langsam reagiert und es nicht fertiggebracht hatte, den vermummten Burschen nach seinem Steinwurf dingfest zu machen. Ich fühlte mich zudem schuldig, dass ich diesen Vorfall unterschätzt hatte. Ich entschuldigte mich. Daraufhin öffnete sie sich während unseres Gesprächs mehr, als ich es vorher hätte erwarten können.
Frau Dr. Ellen Murnau berichtete mir in großer Offenheit vom Ende ihrer Ehe. Ihr Mann habe sie mit einer 23-jährigen Studentin betrogen, die zu allem Überfluss schwanger wurde. Ellen Murnau reichte daraufhin sofort die Scheidung ein und lehnte kompromisslos jedes Versöhnungsangebot ab. Sie habe eben klare Prinzipien, sagte sie mir. Und sie rächte sich. Ihr Exmann betrieb mit einem Kollegen ein immer erfolgreicher werdendes Architekturbüro in Büdingen. Da das Ehepaar Murnau nicht davon ausgegangen war, dass es jemals zu einer Trennung kommen könnte, und erst recht zu einer schmutzigen, verzichteten sie auf einen Ehevertrag. So gehörten Ellen Murnau 50 Prozent der Firmenanteile ihres Mannes, also 25 Prozent des gesamten Firmenwertes. Getrieben von verletzten Gefühlen und der zugefügten Demütigung klagte sie die Auszahlung ihres kompletten Anteils ein, der mit schlappen 650000 Euro bemessen wurde. Und da sich zusätzlich zu diesem gehörigen Eigenkapitalverlust gerade die Krise der Bauwirtschaft weiter verschärfte, musste das Architekturbüro zunächst immer mehr Mitarbeiter entlassen und dann schlussendlich im vergangenen Jahr Konkurs anmelden. Seitdem würde er sie nur noch hassen, sagte sie nüchtern, mit einem riesigen Pflaster auf dem Auge.
Auf meine Frage, ob sie ihrem Mann zutraue, hinter den Anschlägen zu stecken, antwortete sie, dass sie seit einiger Zeit allen alles zutrauen würde. Sie habe sich auch nicht zugetraut, diese Scheidung so durchzuziehen, und sich selber überrascht.
Während ich nun also über diese vergangene Stunde mit Frau Murnau sinniere und dabei die kurvenreiche schmale Landstraße zwischen Laubach und Schotten entlangfahre, erspähe ich im Rückspiegel das dümmliche aufgedunsene Gesicht eines Vogelsberger Mitbürgers. Viel zu nah klebt er an meiner Stoßstange. Ich bin mir sicher: sein verzweifelt auf sportlich getrimmter Opel ist mindestens so tief gelegt wie sein Verstand, und die Reifen sind so breit wie seine rote Visage. Ich verlangsame mein Tempo auf aufreizende 60. Nun fuchtelt er mit den Händen herum und betätigt die Lichthupe. In dem Moment, in dem er seinen Motor laut aufheulen lässt und in einer kaum einsehbaren Kurve zum Überholvorgang ansetzt, beschleunige ich und winke ihn mit einer Polizeikelle, die ich aus genau diesen Gründen immer unter dem Sitz bereitliegen habe, in die nächste
Weitere Kostenlose Bücher