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Der Tod meiner Schwester

Der Tod meiner Schwester

Titel: Der Tod meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diane Chamberlain
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Bett – ich hörte ihn schnarchen, als ich durch das Wohnzimmer ging. Ich gesellte mich auf eine Partie Canasta zu meiner Mutter und meiner Großmutter auf die Veranda. Doch ich konnte mich auf die Karten ebenso wenig konzentrieren wie zuvor auf mein Buch.
    “Was ist los mir dir heute Abend?”, wunderte sich meine Mutter, nachdem ich für jeden zwölf statt elf Karten ausgeteilt hatte. Es war bereits mein dritter oder vierter Fehler.
    “Wahrscheinlich bin ich nur müde”, gab ich vor.
    Grandma legte mir die Hand auf die Stirn.
    “Ich bin nicht krank”, protestierte ich lachend.
    “Ihr zwei seid heute ja ein schönes Paar”, sagte Grandma kopfschüttelnd. “Julie ist müde, und Maria kann kaum aus den Augen gucken.”
    Die Augen meiner Mutter waren rot und verweint. Sie hatte erklärt, dass sie beim Ausschütteln eines Strandtuchs den ganzen Sand in die Augen bekommen hatte.
    “Ich sehe gut”, behauptete sie und klang leicht gereizt.
    Grandma wandte sich wieder ihren Karten zu. “In der Kirche bin ich heute Morgen Libby Wilson über den Weg gelaufen.”
    “Ja, ich habe euch miteinander sprechen sehen.” Meine Mutter zog eine Karte vom Stapel. “Wie geht es ihr?”
    “Wer weiß das schon”, sagte Grandma. “Wie es Libby geht, erfährt man niemals von Libby selbst. Sie redet immer nur über die Probleme anderer, nie über die eigenen.” Sie sprach schnell. Ich liebte ihren starken italienischen Akzent, wenn sie in Fahrt war.
    “Und was hast du über die Probleme anderer erfahren?” Mom legte eine Pikvier ab und hielt sich dann ein Taschentuch an ihr rechtes Auge, das ganz rot und wässerig war.
    “Betty Sanders ist wieder krank”, berichtete Grandma.
    “Ach, die Arme”, erwiderte meine Mutter. “Das ist das … wievielte Mal? Das dritte. Vermuten sie, dass es …?” Sie beendete den Satz nicht. Die Leute sprachen das Wort Krebs damals nicht aus, als ob man sonst Gefahr liefe, selbst daran zu erkranken.
    Ich versuchte, auf der Uhr meiner Mutter die Zeit zu erkennen. Es schien ungefähr halb elf zu sein, doch ich war nicht sicher.
    “Vermutlich.” Meine Großmutter legte vier Königinnen vor sich aus. “Aber niemand spricht davon. Diesmal haben sie ihr alle weiblichen Organe entfernt.”
    “Ihhh”, war mein Beitrag zur Konversation. Mit den Gedanken war ich allerdings woanders, und ich kannte Betty Sanders sowieso nicht.
    “Ich werde ihr eine Karte schicken”, sagte Mom.
    “Libby erzählte außerdem, dass der Junge von Madge im letzten Herbst verhaftet wurde, und du wirst niemals erraten, warum”, tat Grandma geheimnisvoll.
    “Warum?”, fragte meine Mutter prompt.
    “Vergewaltigung.” Grandma flüsterte nur.
    “Oh, mein Gott!” Meine Mutter schüttelte ungläubig den Kopf. “Ist er im Gefängnis?”
    “Sie konnten ihn nicht festnageln, weil das Mädchen ein Flittchen war.” Grandma stieß mich mit dem Ellenbogen an. “Du bist dran, Julie.”
    “Ich finde das furchtbar”, empörte sich meine Mutter, als ich eine Karte vom Stapel zog. “Vergewaltigung ist Vergewaltigung, ob das Mädchen nun ein Flittchen war oder nicht.”
    Dass sie in meiner Anwesenheit über etwas sprachen, das mit Sex zu tun hatte, gefiel mir. Es gab mir das Gefühl, als hätte ich mit dem Einsetzen meiner Periode eine Schwelle überschritten und wäre in ihren Augen nun kein Kind mehr. Ich wusste, dass Vergewaltigung bedeutete, eine Frau zum Sex zu zwingen, doch mir war nicht klar, wie das vor sich gehen sollte. Wie machte ein Mann das? Wie konnte er die Beine einer Frau auseinanderpressen? Es war schwer für mich, mir überhaupt Sex vorzustellen – sogar Sex, der in gegenseitigem Einvernehmen stattfand. Ich erinnerte mich daran, wie ich mir den Tampon hatte einführen wollen. Es war unmöglich gewesen. Wenn Sex schon am Anfang so schwer zu vollziehen war, wie konnte es dann zu einer Vergewaltigung kommen?
    “Nun, sie hatte einen einschlägigen Ruf”, fuhr meine Großmutter fort. “Libby erzählte, dass Madge sehr wütend auf alle gewesen sei, die ihrem Sohn so etwas zutrauten.”
    Meine Mutter lachte. “Und das Letzte, was man sehen möchte, ist eine wütende Madge Walker! Erinnerst du dich noch, als ihr Mann im Clubhaus versehentlich einen Drink auf ihr verschüttete?”
    Es dauerte einen Moment, bis der Name in meinem abwesenden Zustand etwas anstieß. Madge
Walker
.
    “Wie heißt ihr Sohn?”, erkundigte ich mich.
    “Ich weiß es nicht”, erwiderte Grandma. “Aber sie hat nur einen.”
    Oh

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