Der Tod meiner Schwester
mein Gott
, dachte ich. Wie viele Walkers konnte es hier in unserer winzigen Gemeinde schon geben?
“Bruce”, vermutete meine Mutter und sah Grandma an. “Das ist er doch, oder? Bruce?”
“Mag sein”, sagte Grandma achselzuckend.
Das Herz schlug mir fast bis zum Hals, und ich starrte meine Mutter an. Sie konzentrierte sich auf ihre Karten und stellte keinerlei Verbindung her zwischen dem Bruce Walker, der vielleicht ein Vergewaltiger war, und Bruno, dem Jungen, der mit Isabels Clique herumzog. Mom hatte Isabel sogar einen Bootsausflug mit Ned erlaubt, nur weil Bruno bei ihnen war.
Und ich hatte ihn jetzt zu meiner Schwester geschickt, die in der Dunkelheit allein mit ihm sein würde!
“Dann hat die Polizei entschieden, dass er das Mädchen gar nicht richtig vergewaltigt hat, oder?”, fragte ich, während ich eine Kreuzsieben ablegte. Mir war es egal, welche Karte ich loswurde.
“Das Mädchen war … verlottert”, sagte meine Großmutter, “deswegen konnten sie weder das eine noch das andere nachweisen. Obwohl sie Verletzungen hatte. Das ist der Grund, warum du immer auf deinen guten Ruf achten musst.” Sie drohte mir mit dem Finger.
“Nun, selbst wenn es keine richtige Vergewaltigung war” – meine Mutter drückte sich wieder das Taschentuch ans Auge – “tut er doch Dinge, die er nicht tun sollte.”
“Es war eine Vergewaltigung”, erklärte meine Großmutter im Brustton der Überzeugung. “Libby schien sich dessen sicher.”
Meine Großmutter und meine Mutter erörterten weiter die neuesten Gerüchte aus der Nachbarschaft, während meine Gedanken sich immer weiter entfernten. Ich erinnerte mich, wie unsicher Bruno am Nachmittag im Boot gewesen war, als ich ihm vorgeschlagen hatte, mit Isabel zu reden. Er hatte eingeschüchtert und verletzbar gewirkt. Ein Vergewaltiger würde niemals so unsicher aussehen, dachte ich. Er musste unschuldig sein. Wahrscheinlich log das Mädchen, um ihm Schwierigkeiten zu machen. Doch als ich gegen elf tatsächlich ins Bett ging, konnte ich nicht schlafen. Bestand die Möglichkeit, dass ich Isabel einer Gefahr ausgesetzt hatte? War sie noch bei einer ihrer Freundinnen zu Hause? Sollte ich mich hinausschleichen und versuchen, sie zu finden? Ich hätte gern das Telefon benutzt, doch es hing im Wohnzimmer, zu dicht am Schlafzimmer meiner Eltern.
Ich ging zu dem anderen Bett in meiner Nische, damit ich aus dem Fenster schauen konnte. Es war stockdunkel, der Kanal kaum zu erkennen. Die Nacht hatte Wasser, Wälder und Himmel in das gleiche dunkle Blau getaucht. Ich saß da und lauschte dem Zirpen der Grillen. Ich fühlte meine Handlungsmöglichkeiten mit jeder Minute schwinden. Plötzlich erinnerte ich mich, wie Bruno in Neds Wagen über Isabel gesprochen und mit den Händen die Brüste meiner Schwester angedeutet hatte.
Oh Gott
.
Alles würde gut gehen, versuchte ich mich zu beruhigen. Vielleicht ließ sich Bruno ja gar nicht blicken. Dann würde Isabel nach Hause kommen und wütend auf Ned sein. Das wäre gut. Vielleicht war das sogar für mich ein guter Ausgang – bis Ned ihr allerdings erzählen würde, dass er mich hatte ausrichten lassen, er könne sie nicht treffen. Daran hatte ich nicht gedacht – wie sauer Ned auf mich sein würde, wenn ich ihm sagte, dass ich seine Botschaft vergessen hätte. Das würde vermutlich jede winzige Chance vermasseln, die ich vielleicht bei ihm hatte.
Das Wort
Vergewaltigung
kam mir wieder in den Sinn. War Bruno wirklich ein Vergewaltiger? Ich dachte an das Mädchen, das ihn beschuldigt hatte.
Sie hatte Verletzungen
, hatte Grandma gesagt.
Ich stand auf, weil ich es nicht mehr aushalten konnte. Die Uhr auf meinem Nachttisch zeigte Viertel vor zwölf. Ich hatte zu viel Zeit mit Denken verbracht und zu wenig gehandelt. Ich würde zum Strand fahren. Lautlos kletterte ich die Stufen hinunter. Falls die Strömung gerade Richtung Bucht floss, wollte ich das Boot nehmen. Falls nicht, würde ich zum Strand laufen. Ich hätte gern mein Fahrrad genommen, doch es stand in der Garage, und wenn ich das Tor öffnete, weckte ich damit das ganze Haus.
Ich sollte Ned holen, dachte ich, als ich auf unsere Veranda trat. Ich sollte gestehen, was ich getan hatte, und ihn bitten mitzukommen. Diese Sache war wichtig und ernst genug für mich, um ihm die Wahrheit zu sagen.
Leise verließ ich das Haus und rannte über den Sand zur Hintertür der Chapmans. Ich hob die Hand, um zu klopfen, zögerte jedoch. Das Haus der Chapmans war dunkel, nicht
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