Der Tod meiner Schwester
bin ich sicher.”
Meine Mutter rief erst bei Mitzis Eltern an und dann bei Pams. Isabel war bei keiner von ihnen, und die Mädchen sagten, sie hätten sie nicht mehr gesehen, seit sie letzten Abend Mitzis Haus verlassen hätte, um nach Hause zu gehen. Ich beobachtete, wie meine Mutter nach dem Gespräch mit Pam den Hörer auflegte. Sie stand mit dem Gesicht zum Haus der Chapmans, und obwohl sich mehrere Mauern zwischen ihr und Ned Chapman befanden, wusste ich, dass sie ihn in Gedanken vor sich sah.
Sie zog ihre Schürze aus und ging rasch zur Hintertür. Grandma und ich blieben am Tisch sitzen, ohne das Essen anzurühren. “Wir machen uns alle Gedanken wegen nichts”, meinte Grandma.
Grandpop stand mit dem Blick zum Kanal an der Fliegengittertür und wartete auf die Rückkehr meiner Mutter. Kurz darauf sah ich sie durch den Garten auf unsere Veranda zulaufen. Ich hatte meine Mutter noch nie rennen sehen und wusste, dass etwas Schreckliches geschehen war.
Grandpop stieß die Fliegengittertür für sie auf, und sie kam auf die Veranda.
“Irgendwas stimmt nicht”, erklärte sie ihm außer Atem. “Ned hat sie seit gestern Morgen nicht gesehen. Und Joan Chapman sagt, sie hätte seit Sonnenaufgang im Garten gesessen und schon da bemerkt, dass unser Boot fort sei. Sie dachte, du wärst zu einem frühen Angeltrip rausgefahren.”
Ich stand auf und begann zu weinen, wobei ich die Hände wrang wie eine alte Frau.
“Wir sollten die Wasserpolizei benachrichtigen”, schlug Grandpop vor.
Meine Mutter blickte zum Garten der Chapmans, wo Ned gerade im Dock sein Boot losmachte. “Ned will hinausfahren, um nach ihnen zu suchen.”
Grandpop stieß wieder die Tür auf und trat nach draußen.
“Wo willst du hin?”, fragte Grandma.
“Mit Ned hinaus”, rief er uns über die Schulter zu.
“Ich werde Daddy anrufen.” Meine Mutter ging auf die Verandatüren zu, die ins Haus führten. “Er muss herkommen –”
“Du ziehst voreilige Schlüsse”, behauptete Grandma. “Glaubst du nicht –”
Meine Mutter wirbelte herum, um meiner Großmutter ins Gesicht zu sehen. “Mutter!” Ihre Stimme überschlug sich, und Mom klang mehr wie Isabel als wie sie selbst. “Sie werden beide
vermisst
. Das Boot ist fort. Es ergibt keinen Sinn. Irgendwas stimmt nicht.”
Grandma war aufgestanden und hatte mir den Arm um die Schultern gelegt. “Du machst dir Sorgen, Lucy, nicht wahr?”
“Nun, vielleicht
sollte
sie sich Sorgen machen.” Meine Mutter hastete an uns vorbei ins Wohnzimmer.
Meine Großmutter ließ mich los und murmelte etwas auf Italienisch, während sie begann, den Tisch abzuräumen. Ich ging zur Fliegengittertür und drückte meine Nase an das Drahtgeflecht. Es roch nach Staub und Metall, ein Geruch, den ich immer mit jenem Moment verband, als ich sah, wie Grandpop und Ned mit dem Boot der Chapmans in Richtung Bucht rasten.
38. KAPITEL
J ulie
1962
Irgendwann in jener Nacht traf mein Boot auf Land. Ich hoffte, dass ich auf einer dieser kleinen strauchbewachsenen Inseln in der Bucht gestrandet war, doch die Dunkelheit und meine Angst machten mich so orientierungslos, dass ich nicht sicher sein konnte. Das Wasser schlug fast lautlos gegen das Boot, doch die Grillen und Frösche hinter mir sorgten für eine beständige Geräuschkulisse. Die Moskitos waren ebenso unsichtbar wie unersättlich. Sie summten an meinen Ohren und stürzten sich auf meine Arme, Beine und auf mein Gesicht. Ich fürchtete mich damals vor fast nichts, doch in jener Nacht war ich von Angst erfüllt.
Ich weinte, als ich mir vorstellte, was Bruno Isabel vielleicht angetan hatte, und betete, dass sie ihm entkommen war, bevor er sie verletzen oder vergewaltigen konnte. Ich sah sie vor mir, wie sie barfuß und womöglich nackt nach Hause rannte und nicht stehen blieb, bis sie die Sicherheit unseres Bungalows erreicht hatte. Wenn sie unversehrt war, das versprach ich Gott, würde ich nie wieder unreine Gedanken haben, würde nie wieder lügen oder meinen Eltern nicht gehorchen. Ich musste mich ändern. Ich war ein schreckliches Mädchen.
Ich saß in meinem Boot und hatte Angst, es zu verlassen, weil ich nicht wusste, worauf ich mit meinen nackten Füßen treten würde. Zum ersten Mal erfuhr ich am eigenen Leib, wie sich Lucy auf dem dunklen Dachboden fühlen musste. Ich würde mich nie wieder über sie lustig machen. Ich würde meine Schwestern hegen und pflegen.
Bitte, bitte, Gott, lass es Isabel gut gehen!
Als klar war, dass ich
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