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Der Tod meiner Schwester

Der Tod meiner Schwester

Titel: Der Tod meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diane Chamberlain
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Richtung Schilf schwamm, und es dauerte eine ganze Zeit, bis ich begriff, dass dort zwischen dem Schilf und dem Seetang der Körper meiner Schwester lag.
    Meine stärkste Erinnerung an den Rest des Tages ist die eines dumpfen Schmerzes in meiner Brust und meinem Hals. Ich dachte, mein Herz würde jeden Moment stehen bleiben. Es war der Tag, an dem ich erfuhr, was das Wort Totenklage bedeutete. Und der Tag, an dem meine Mutter mich schlug. Sie hatte nie zuvor Hand an mich gelegt, doch sie gab mir eine schallende Ohrfeige, als sie von meinem Anteil am Tod meiner Schwester erfuhr.
    “Wie konntest du ihr etwas so Schreckliches antun?”, fragte sie verständnislos.
    Meine Wange brannte, und Tränen rannen mir über das Gesicht.
    “Du hast gestern Abend mit deiner Großmutter und mir auf der Veranda gesessen”, sagte meine Mutter. “Du hast gehört, wie wir über den Walker-Jungen gesprochen haben und dass er ein Vergewaltiger sein könnte. Und du hast
nichts
gesagt! Wie konntest du? Warum hast du uns nichts gesagt?” Sie wollte mich erneut ohrfeigen, doch Grandpop hatte sich neben mich gestellt und hob den Arm, um den Schlag abzufangen.
    “Nicht, Maria”, versuchte er meine Mutter zu beschwichtigen.
    “Warum hast du keinem Erwachsenen davon erzählt?”, schrie mir meine Mutter ins Gesicht. Grandpop legte mir beschützend den Arm um die Schulter, doch meine Mutter konnte nicht aufhören zu schreien. “Wie konntest du das
tun
?”, warf sie mir weinend vor. “
Wie?”
    Ich hatte keine Antwort, und die Worte
Es tut mir leid
waren so schwach und nutzlos, dass ich stattdessen lieber gar nichts sagte. Ich ließ den Kopf hängen und wollte mich an meinen Großvater anlehnen, doch trotz des Armes um meiner Schulter schien er weit entfernt zu sein. In mir krampfte sich alles zusammen, als ob etwas das Leben aus mir herauspressen wollte.
    “Ich muss mich übergeben”, stammelte ich und rannte schnell ins Badezimmer.
    Ich übergab mich nicht. Es war nichts in mir, das ich hätte herauswürgen können. Wie ein Häufchen Elend hockte ich schluchzend auf dem Toilettensitz, während ich dem Jammern meiner Mutter und meiner Großmutter im Wohnzimmer lauschte. Niemand kam, um mich zu trösten. Vierzig Minuten lang muss ich dort so gesessen haben – voller Angst, das Badezimmer zu verlassen, voller Angst, meiner Familie entgegenzutreten.
    Ich hörte, wie mein Vater eintraf, hörte ihn mit meiner Mutter im Flur vor dem Badezimmer sprechen. Ich sah sie in einer Umarmung vor mir. Sein Schluchzen war so laut wie das ihre, und ich weinte noch mehr. Ich schlang die Arme um meinen Körper und wiegte mich vor und zurück, denn ich wusste, dass ich ihnen ihre Lieblingstochter genommen hatte. Ich hörte, wie Autotüren zugeschlagen wurden, und beugte mich vor, um aus dem Fenster zu sehen. Ein Polizeiwagen parkte vor unserem Haus, und zwei Männer in Uniform kamen auf die Haustür zu.
    Ich schloss die Augen und lauschte den Stimmen im Flur. Dann klopfte jemand an die Badezimmertür.
    “Julie?” Es war mein Großvater. “Ist alles in Ordnung?”
    “Ja.” Meine Stimme war nur ein Piepsen.
    “Du musst herauskommen”, sagte er. “Die Polizei will mit dir sprechen.”
    Ich wollte am liebsten in dem kleinen, sicheren Raum bleiben, stand aber auf und öffnete die Tür. Ich sah in das traurige Bassett-Gesicht meines Großvaters. Seine Augen waren rot. “Grandpop”, krächzte ich. Ich wollte ihm sagen, dass ich das alles nicht gewollt hatte, doch das wäre eine Entschuldigung für das gewesen, was ich getan hatte, und es gab keine Entschuldigung für diese spezielle Sünde. Er legte mir den Arm um die Schulter und führte mich den Flur entlang. Während des ganzen Weges durch das Wohnzimmer und über die Veranda sah ich die Polizisten im Garten mit meinem Vater sprechen. Und ich hörte Stimmen aus dem Schlafzimmer meiner Eltern. Meine Mutter, meine Großmutter und Lucy waren darin, ihre gedämpften Stimmen wurden immer wieder von Schluchzen unterbrochen. Ich hörte den Schluckauf meiner Schwester.
    Ich wischte mir mit dem Handrücken über das Gesicht, als wir über die Veranda gingen. Grandpop öffnete die Fliegengittertür, und ich fiel fast die zwei Stufen zum Garten hinunter, weil meine Knie nachgaben. Mein Vater und die Polizisten sahen auf, als die Fliegengittertür hinter uns zufiel. In einem von ihnen erkannte ich Officer Davis, der mich gelobt hatte, als ich den kleinen Jungen aufgespürt hatte. Nun schämte ich mich, fühlte

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