Der Tod meiner Schwester
mich schon bedient”, sagte sie und deutete auf den Wohnzimmertisch. Auf einem Untersetzer stand ein Glas. Es war fast leer, sie musste schon eine Zeit hier sein.
“Mango-Geschmack”, sagte ich. “Lecker, nicht wahr?”
Sie nickte.
“Lass mich etwas zu trinken holen, und dann reden wir, okay?”
Sie nahm auf dem alten geblümten Sofa im Wohnzimmer Platz und sah aus wie ein Model. Das Weiß ihrer Hose und der Bluse bildeten einen starken Kontrast zu den Flieder- und Beerentönen des Bezugs. Ich schenkte mir in der Küche einen Eistee ein und bereitete mich innerlich auf das Gespräch vor. Sicher wollte sie über Julies Reaktion sprechen, nachdem sie ihr gesagt hatte, dass sie den Sommer über bei Glen wohnen wollte. Ich würde ihr meine Unterstützung zusichern, und das meinte ich ernst.
Als ich das Wohnzimmer betrat, rutschte sie auf die Kante des Sofas vor, als wollte sie sich für ein Einstellungsgespräch wappnen. Ich setzte mich in meinen Lieblingssessel, legte die Beine über die Armlehne und kickte meine Sandalen von den Füßen.
“Ich weiß, dass deine Mom es nicht gerade positiv aufgenommen hat, dass du bei deinem Vater wohnen willst”, begann ich und hob mein Glas an die Lippen.
Sie schüttelte den Kopf und blickte auf ihre im Schoß verschränkten Hände. “Das stimmt”, meinte sie. “Aber deshalb bin ich nicht hier.”
“Nein?”, ermunterte ich sie.
Sie blickte mich an. Ihre Augen
waren
rot.
“Ich bin schwanger”, platzte sie völlig unvermittelt heraus. Meine Kinnlade fiel herunter, es hatte mir die Sprache verschlagen.
“Es tut mir leid”, fügte sie hinzu, als hätte sie mich verletzt.
“Aber du nimmst doch die Pille”, wunderte ich mich.
“Ich habe eine vergessen.” Sie spielte mit den Fransen der Decke, die über der Sofalehne lag. “Aber ich habe sie am nächsten Tag genommen, als ich es bemerkte. Ich schätze, es war zu spät oder so.”
“Wie weit bist du?”, fragte ich.
“In der sechzehnten Woche … ziemlich genau.”
“Sechzehnte Woche!” Ich blickte auf ihren Bauch, der durch die weite weiße Bluse kaschiert wurde. Plötzlich ergab alles Sinn. Dass sie zugenommen hatte, ihre gedämpfte Stimmung, das Unbewegliche in ihrem Gesicht.
“Mein Stichtag ist der zwanzigste Dezember”, erklärte sie.
“Stichtag?”, fragte ich. “Du meinst … du willst dieses Baby zur Welt bringen?”
Sie nickte. “Der Vater des Babys und ich haben darüber gesprochen, und wir haben beschlossen, dass wir es haben wollen.”
“Wer um Himmels willen ist der Vater des Babys?”, fragte ich, durchaus nicht zornig. Eher verwirrt als wütend. “Deine Mutter sagte, dass du seit Monaten kein Date mehr gehabt hättest.”
“Sie hat recht”, erwiderte sie. “Das hatte ich nicht, weil ich total verliebt bin in … den Vater des Babys. Er lebt in Colorado und heißt Tanner Stroh.”
“Woher kennst du ihn?” Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf, ohne dass ich sie festhalten konnte: Wie würde Julie reagieren, wie meine Mutter, die dann Urgroßmutter würde, was war mit Shannons Musikkarriere? Sie sollte im Herbst aufs Konservatorium in Oberlin gehen!
“Ich habe ihn im Netz kennengelernt, als ich für ein Referat über den Bürgerkrieg recherchierte”, sagte sie. “Er hat eine Website darüber. Wir fingen an, uns zu mailen. Und wir telefonierten viel miteinander.”
Ich unterrichtete früher amerikanische Geschichte, und trotz meiner Vorbehalte gefiel mir der Umstand, dass dieser Typ aus Colorado eine Website über den Bürgerkrieg betrieb. Ich konnte mir gerade noch die Frage verkneifen, ob die Site eher dem Norden oder dem Süden gewogen war.
“Und offensichtlich habt ihr euch getroffen”, vermutete ich und deutete auf ihren Bauch.
“Er verbrachte seine Frühjahrsferien hier.” Shannon zupfte weiter an den Fransen herum, bis sich eine löste. Sie verzog das Gesicht, sah mich an. “Tut mir leid.”
“Ist schon in Ordnung.” Ich bedeutete ihr mit einer kreisenden Handbewegung fortzufahren. “Wo hat er gewohnt?”
“Er hat Freunde in Montclair.” Plötzlich bebte ihre Unterlippe. “Er ist außergewöhnlich, Lucy”, sagte sie kopfschüttelnd, als könne sie das Glück kaum fassen, ihm begegnet zu sein. “Er würde dir gefallen. Das weiß ich.”
Ich war mir dessen keineswegs so sicher. Ich wünschte mir, sie hätte mir früher davon erzählt.
Viel
früher, sodass wir ein vernünftiges Gespräch über ihre Optionen hätten führen können. Ich
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