Der Tod meiner Schwester
über die Schulter, als ich mich vorbeugte. “Ich versuche zu verarbeiten, was das für dich bedeutet”, sagte ich. “Für deine Zukunft.”
“Du weißt, wie sehr ich Kinder liebe”, erwiderte sie. “Ich wollte erst Cellistin und später Mutter werden. Nun werde ich die Reihenfolge nur umdrehen. Ich meine, wenn ich zum Beispiel zwischen beidem wählen müsste, würde ich mich dafür entscheiden, eine Mutter zu sein.”
Stimmte das? Shannon hatte Cellistin in einem Sinfonieorchester sein wollen, seit Julie und Glen sie mit fünf Jahren zu ihrem ersten Konzert der New Yorker Philharmoniker mitgenommen hatten. Hatten die Erwachsenen in ihrem Leben, die sie in diesem Traum ermutigten, ihre bodenständigeren Ziele ignoriert, oder machte Shannon sich nur selbst etwas vor?
“Du hast immer gesagt, du seist
berufen
zum Cellospielen”, hielt ich ihr vor.
“Ich liebe es noch immer”, bekräftigte sie. “Ich will noch immer spielen, und ich will noch immer zur Musikschule … später. Nur jetzt kann ich es nicht machen. Du bist auch nicht gleich aufs College gegangen. Ist das so schlimm?”
“Natürlich nicht”, erwiderte ich. Ich wollte sie fragen, ob dieser Tanner vorhatte, sie zu heiraten. Ich wollte fragen, wie sie sich um das Baby kümmern und “später” auf die Musikschule gehen wollte. Doch diese Fragen wären nicht hilfreich gewesen. Noch nicht. Stattdessen hörte ich ihr weiter zu und versuchte, ihr keine Vorwürfe zu machen. Davon würde sie woanders genug bekommen.
“Was glaubst du, wie lange du das vor deiner Mutter verheimlichen kannst?”, fragte ich. “Willst du deshalb zu deinem Vater ziehen? Glaubst du, er würde es nicht bemerken?”
“Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was ich tun soll.” Sie zog an der Franse in ihren Händen und ließ sie dann in ihren Schoß fallen. “Bei Tanner kann ich bis September nicht einziehen, weil er im Moment mit einigen anderen Leuten zusammenwohnt und es kein Zimmer für mich gäbe.”
Ich hasste ihn. Selbstsüchtiger Bastard. Ich fragte mich, ob es sich bei einem der “anderen Leute” um seine Frau handelte, doch ich hielt meinen Mund.
“Also …” Sie sah mich Hilfe suchend an. “Was soll ich tun? Ich dachte, ich könnte vielleicht bei dir wohnen, da du es ja jetzt weißt, und ich würde …”
“Mm-Mm.” Ich schüttelte den Kopf. “Du musst es deinen Eltern sagen, Shannon. Du
musst
es tun. Das weißt du doch, oder?”
“Mom wird völlig durchdrehen.”
“Ja, das wird sie.” Julie würde einen Anfall bekommen. Ein uneheliches Baby. Vereitelte Collegepläne, nachdem sie Shannon durch das halbe Land gefahren hatte, damit sie bei den Schulen vorspielen konnte, die sie besuchen wollte. Eine vielversprechende Zukunft, die nun auf der Kippe stand. Und vor allem die Sorge, dass etwas schiefgehen könnte. Julie wartete seit siebzehn Jahren darauf, dass Shannon etwas Furchtbares zustieß. Vielleicht war es dies.
“Ja, das wird sie”, wiederholte ich. “Dennoch musst du es ihr sagen.”
7. KAPITEL
J ulie
1962
Dass ich am dritten Tag an der Küste meine Periode bekam, schien mir das Schlimmste, was passieren konnte. Wir machten uns gerade fertig für unseren örtlichen Strand, manchmal auch “Baby-Strand” genannt, weil er mehr an der Bucht als am Meer lag und das Wasser ruhig und flach genug war, dass auch Kleinkinder darin schwimmen konnten. Ich schwamm besonders gerne in der Bucht. Ich hoffte, dort einige Kinder in meinem Alter zu finden, mit denen ich spielen konnte. Denn ich fühlte mich bereits einsam und musste zugeben, dass ich die Freundschaft mit Ethan vermisste. In der Straße gab es keine anderen Kinder in meinem Alter. Lucy war nutzlos, weil sie vor allem ständig Angst hatte, und Isabel wollte nichts mit mir zu tun haben. In Gegenwart ihrer Freundinnen behandelte sie mich, als ob ich ihr peinlich wäre.
Lucy saß im Wohnzimmer und sah mit Großmutter fern, während sie ihren Flintstones-Schwimmreifen aufblies. Isabel holte den Sonnenschirm aus der Garage, und ich sammelte in verschiedenen Ecken des Hauses Handtücher zusammen, als ich plötzlich in meinem Unterbauch diesen Schmerz verspürte, der mir in wenigen Monaten nur allzu vertraut geworden war. Ich ging nach oben auf den Dachboden in das winzige, mit einem Vorhang abgetrennte Badezimmer, wo ich meinen Badeanzug herunterzog und den Fleck sah. Am liebsten hätte ich geheult, doch ich versuchte mich zu beherrschen. Zu dieser Zeit waren die kleinen in Zellophanpapier
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