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Der Tod meiner Schwester

Der Tod meiner Schwester

Titel: Der Tod meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diane Chamberlain
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fühlte mich irgendwie verraten von ihr. Shannon hatte mir immer vertraut. Ich dachte, ich wüsste alles über sie.
    “Warum hast du mir nie von diesem Jungen erzählt?” Ich dachte an all die gemeinsamen Mittag- und Abendessen in den letzten sechs Monaten, als sie offenbar schon diesen Tanner im Kopf und dennoch nichts gesagt hatte.
    “Ich wollte dich nicht sagen hören, dass ich dumm sei”, erklärte sie.
    “Wann habe ich je zu dir gesagt, dass du dumm wärst?”, wollte ich wissen. “Und warum sollte ich jetzt damit anfangen?”
    “Du weißt schon …” Sie spielte mit der abgerissenen Franse in ihrer Hand. “Weil er so weit weg wohnt, und weil ich ihn im Internet kennengelernt habe und so.”
    Ich wurde argwöhnisch. “Was meinst du mit ‘und so’?”
    “Er ist siebenundzwanzig”, antwortete sie und hielt die Franse ganz still, während sie auf meine Reaktion wartete.
    Ich versuchte mir den Schock nicht anmerken zu lassen. Es gab hundert Dinge, die ich gerne sagen wollte, doch nichts davon wäre hilfreich für sie.
    “Und was weißt du über ihn?” Es gelang mir, meine Stimme ruhig zu halten.
    Zum ersten Mal seit meiner Ankunft lächelte sie, wobei sich ihre Grübchen zeigten und ihre Augen den träumerischen Ausdruck einer verliebten Frau annahmen.
    “Er ist so großartig”, schwärmte sie. “Er ist an der Hochschule für Aufbaustudien, um seinen Doktor in Geschichte zu machen. Der Bürgerkrieg war seine letzte Abschlussarbeit. Nun schreibt er an einer Arbeit über den Holocaust. Er ist absolut hinreißend und brillant. Er will College-Professor werden”, fügte sie hinzu, um mein Herz zu gewinnen. Sie wusste, dass ich eine Schwäche hatte für alle, die unterrichteten.
    “Wie hat er reagiert, als du ihm gesagt hast, dass du schwanger bist?” Ich traute diesem absolut hinreißenden und mehr oder weniger mittelalten zukünftigen Professor kein bisschen. Er lebte mehr als dreitausend Kilometer weit weg. Er konnte irgendein Widerling sein, der sich seine Zeugnisse fälschte. Aber er hatte diese Website. Die würde ich mir mit Sicherheit anschauen.
    “Er war wirklich aufgelöst”, sagte sie, “aber vor allem wegen mir. Er sagte, er wolle nicht, dass ich das Kind abtreiben lasse, doch er könne verstehen, dass ein Baby all meine Pläne fürs College und so durchkreuzen würde. Und er sagte, dass ich es tun solle, wenn ich es wirklich wollte.”
    “Und was –”
    “Ich kann es nicht tun, Lucy.” Ein Flehen um Verständnis lag in ihrer Stimme. “Wenn es letztes Jahr geschehen wäre, hätte ich mich für eine Abtreibung entschieden. Also wenn es vor meinem Schulabschluss passiert wäre. Doch jetzt … ich würde mir egoistisch vorkommen, es jetzt zu tun. Dies ist mein
Baby
.” Sie legte ihre Hände schützend auf ihren kaum sichtbaren Bauch.
    “Ach, Liebes”, seufzte ich und fühlte mit ihr. Ich dachte daran, wie schwer diese letzten Monate für sie gewesen sein mussten, in denen sie ihr Geheimnis vor all jenen Menschen verborgen hatte, die sie am meisten liebten. Ich dachte an ihren Notendurchschnitt und ihre Verantwortung als Jahrgangssprecherin. Wie um Himmels willen hatte sie das alles so gut geschafft? Sie war selbst ziemlich großartig.
    “Er wird mich und das Baby unterstützen”, erklärte sie. “Er möchte, dass ich nach Colorado ziehe, und wir suchen uns beide einen Job, und er arbeitet in Teilzeit an der Uni. Und wenn das Baby ein bisschen älter ist, kann ich aufs College gehen.”
    Tränen stiegen mir in die Augen. Wir hatten alle geglaubt, dass Shannons Zukunft so klar gezeichnet vor ihr lag. Sie war an einer renommierten und führenden Musikschule angenommen worden. Und sie war talentiert genug, um eine wunderbare Karriere mit einem guten Sinfonieorchester vor sich zu haben. Und nun sah ich sie vor mir, wie sie ein Durchschnittsleben führte in Colorado, mit einem Mann, den sie kaum kannte, und einem Baby, für das sie sorgte.
    “Du bist bestürzt”, stellte sie fest.
    “Das bin ich, oh ja. Es ist einfach zu viel, das ich in zu kurzer Zeit verarbeiten muss.”
    “Ich weiß”, gab sie zu. “Ich hätte dir schon lange vorher von ihm erzählen sollen.”
    “Du wusstest, dass du dir jetzt einiges anhören musst.”
    Sie nickte.
    “Doch nur weil ich dich liebe und mir Sorgen um dich mache.”
    Sie schluckte und nickte erneut. Wieder begann ihre Unterlippe zu beben.
    Ich setzte mich aufrecht hin und presste meine Handflächen im Schoß zusammen. Mein Zopf fiel mir

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