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Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens

Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens

Titel: Der Tod und andere Höhepunkte meines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Niedlich
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überbrücken, und mit viel Glück und der Vermittlung durch Simone bekam ich einen Praktikumsplatz in der Nervenklinik Spandau. Es war ein geradezu idyllischer Ort, direkt am Waldrand und mit einem Tiergehege, in dem weiße Hirsche lebten. Natürlich glaubte das niemand, und die übliche Reaktion, die man auf die Erwähnung der Hirsche hin bekam, war: „Weiße Hirsche. Genau. Und die rosa Elefanten sind gleich daneben, was?“
    Ehrlich gesagt hatte ich nie so ganz verstanden, weshalb man diese Tiere dort hielt. Sicherlich würde es bei dem einen oder anderen Psychiatriepatienten sonderbare Reaktionen hervorrufen, wenn er plötzlich weiße Hirsche sähe. Vielleicht waren die Tiere für manche aber auch ein Zwischenschritt auf dem Weg zurück in die Realität. Mein Interesse galt zumindest eher den Patienten der Klinik als den Tieren.
    Ich hatte mit den eher leichten Fällen zu tun, brachte ihnen Essen, half ihnen beim Waschen, erledigte Botengänge. Einige Patienten hatten tiefe psychologische Störungen, andere waren einfach nur alkoholkrank. Dasselbe hätte man über die Ärzte sagen können. Zumindest schienen die meisten von ihnen ihren Beruf mit einem gewissen Grad an Humor zu nehmen. Einer der Pfleger erzählte mit Hingabe jeden Tag einen neuen Witz über Psychologen oder Ärzte.
    „Wie viele Psychologen braucht man, um eine Glühbirne einzuschrauben?“
    Ich stöhnte. „Was weiß ich.“
    „Einen! Aber die Glühbirne muss es auch wirklich wollen.“
    Abgesehen von den flachen Witzen hätte ich es schlimmer treffen können. Von den Patienten hätte ich keinen als verrückt bezeichnen wollen, bei den Ärzten war ich mir dagegen nicht so sicher. Eigentlich taten mir die meisten Patienten eher leid. Zumindest hatte die „Jeckenmühle“ den Vorteil, dass ich es nicht mit Todesfällen zu tun bekam. Aber Tod hatte leider völlig recht damit, als er mir sagte, dass die Visionen nicht verschwinden würden.
    Gelegentlich hatte ich nur eine Art Geistesblitz, ein einzelnes Bild eines Toten schoss mir ins Gehirn. Andere Male sah ich explizit, wie die Leute, um die ich mich kümmerte, ums Leben kamen. Eine geistig verwirrte Frau, die in ein paar Jahren leicht bekleidet im winterlichen Park erfrieren würde. Ein Alkoholiker, der sich selbst eingewiesen hatte, dennoch den Kampf mit der Flasche verlor und an seinem eigenen Erbrochenen erstickte.
    Mir blieb nichts anderes übrig, als die Szenen für den Moment zu verdrängen. Die Todesfälle lagen glücklicherweise allesamt in der fernen Zukunft, so dass ich zum Zeitpunkt der Vision nichts dagegen ausrichten konnte. Zumal ich mir nach außen nichts anmerken lassen durfte, da es sicherlich einige Leute vom Pflegepersonal interessant gefunden hätten, wenn ich Anzeichen eines Nervenzusammenbruchs gezeigt hätte. Es gab allerdings einen Vorfall, der mich nicht in Ruhe ließ.
    Eine der jüngeren Mitarbeiterinnen hatte sich Anfang September von ihrem Freund getrennt, der zunehmend handgreiflich geworden war und sein Recht auf Sex, wie er es auszudrücken pflegte, auf Gedeih und Verderb einforderte. Psychologisch betrachtet wäre er eventuell ein interessanter Fall gewesen, sozial gesehen war er einfach nur ein Arschloch. Sie hingegen war eine nette, aber stille Person, die vermutlich etwas zu sehr an einem Helfersyndrom litt. Die Anziehungskraft, die er offenbar auf sie ausübte, war mir zumindest vollkommen unverständlich. Als sie sich nach mehreren von seinen Gewaltausbrüchen endlich von ihm trennte, war ihm wohl irgendwas an dem Satz „Ich hasse dich und will nie wieder etwas von dir hören“ unklar geblieben. Als ich eines Tages auf dem Klinikflur an ihr vorbeilief, traf mich eine Vision, die mich buchstäblich ins Wanken brachte. Ich sah, wie er ihr in der Nacht auflauern, sie ins Gebüsch ziehen und dort vergewaltigen würde, während er sie erdrosselte.
    Den Rest des Tages war ich zu fast nichts zu gebrauchen, weil meine Gedanken nur darum kreisten, wie ich ihr helfen könnte. Es war ausgeschlossen, dass ich zu ihr ging und ihr geradeheraus davon erzählte. Sie würde mir nicht glauben oder mich höchstens für einen Spinner halten. Wäre ich zur Polizei gegangen, hätte das Ergebnis wahrscheinlich ähnlich ausgesehen. Mir blieb also nichts weiter, als selbst tätig zu werden.
    Nach dem Feierabend sprang ich zum ersten Mal nach langer Zeit mal wieder direkt nach Hause, und ich tat so, als wäre alles ganz normal. Ich aß mit meinen Eltern, wir sahen etwas fern, dann

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