Der Tod Verhandelt Nicht
Angst davor hatte, dass die Trennlinie zwischen Gut und Böse verwischt werden könnte. Von den eigenen Moralvorstellungen erdrückt, war er nicht in der Lage, seine Freunde und seine Tochter in Ruhe ihre Grenzen ausloten zu lassen.
Ich holte tief Luft und sah zu den Dünen. Aglaja ließ sich immer noch nicht blicken, folglich beschloss ich, zum Strand hinunterzugehen und ihr dort die Leviten zu lesen.
Schwerer Harzgeruch troff von den Bäumen und mischte sich mit dem Aroma der durch die Hitze neu belebten Zistrosen, als ich an den Strand kam, an dem kaum ein Mensch war. Meine Tochter hatte sich nah am Ufer auf ihr Handtuch gesetzt. Den Kopfhörer auf den Ohren saß sie da und schaute aufs Meer hinaus. Mich überkam ein Anflug von Zärtlichkeit, doch ich verkniff ihn mir sofort wieder. Sie bemerkte mich nicht, bis ich direkt neben ihr stand und die kühlen Wellen mir an den Füßen leckten, denn sie rauchte gerade den Joint zu Ende, der diese Staatsaffäre ausgelöst hatte.
»Was fällt dir ein, verdammt noch mal?«, schrie ich sie an und deutete auf den Joint, den sie zwischen Mittel- und Ringfinger hielt.
Da hob sie endlich den Kopf, sah mich mit einem so schmachtenden Blick an, wie ihn nur Haschischnebel hervorbringen kann, und nahm den Kopfhörer ab.
»Was ist denn los, Pa?«
»Wegen dir habe ich mich mit Virgilio gestritten. Er will nicht, dass Laura und du euch noch seht.«
»Nur wegen einem bisschen Haschisch?«
»Was glaubst du denn, wo wir hier sind? Auf Sardinien gibt es keinen Jugendclub und auch nicht solche Nichtsnutze wie die Leute, mit denen du dich in Genua triffst! Wir sind hier in einem Dorf im tiefsten Süden, und du hast nichts Besseres zu tun, als der Tochter eines ehemaligen Gefängnisaufsehers, der zudem noch mein Freund ist, das Haschischrauchen beizubringen?!«
»Was redest du denn da, Pa …«, unterbrach sie mich mit leicht hängenden Mundwinkeln. Wie es schien, hatte sie den Joint fast ganz allein geraucht.
»Ich meine, du müsstest langsam lernen, wie man sich im Leben zu benehmen hat, Aglaja. Du hast mich gebeten, deine Mutter zu überreden, dass du hierbleiben darfst, und ich …«
»Was zum Teufel hat denn meine Mutter damit zu tun?«
»Wenn du schon willst, dass ich mich für dich ins Zeug lege, dann versuch wenigstens, mir das Leben nicht unnötig schwer zu machen.«
»Willst du mich etwa zurück nach Hause schicken?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber bestimmt gedacht: Wie schön wäre es doch, sich diese Nervensäge vom Hals zu schaffen und sie zurück zu ihrer Mutter zu schicken. Soll die sich doch mit dem Gör rumschlagen, sie ist es ja inzwischen gewöhnt …«
»Es reicht, Mädel. Um dich hierbehalten zu können, habe ich gerade deine Mutter am Telefon zum Teufel gewünscht. Aber das soll nicht zum Freibrief dafür werden, dass du hier einfach alles machst, was dir in den Sinn kommt. Die Mentalität in diesem Dorf …«
»Das ist keine Frage der Mentalität, Pa«, unterbrach sie mich entschieden. »Das ist ein rein finanzielles Problem.«
»Was willst du damit sagen?!«
»Schwör mir erst, dass du Virgilio nichts davon erzählst.«
»Ich schwöre.«
»Der Dope schmeckt den Freunden von Laura genauso. Und es war ganz sicher nicht das erste Mal, dass sie einen Joint geraucht hat. Bei ihr in der Schulegehen die Joints genauso um wie bei uns, bloß dass die Jugendlichen hier weniger Geld haben und schwieriger an das Hasch rankommen.«
»Meinst du damit, dass gar nicht du …«
»Ich hatte bloß ein paar Gramm Haschisch bei mir, die sind längst weg. Und ich habe Laura ganz bestimmt nicht überredet.«
Trotzdem wollte ich ihr eine Lektion erteilen. Nach zwanzig Jahren, die ich nun schon nach Tertenia kam, glaubte ich tatsächlich, alles über dieses Dorf und die Menschen hier zu wissen. Und nun stellte sich heraus, dass ich überhaupt noch nichts begriffen hatte. Und jetzt erklärte mir auch noch meine Tochter, dass die Jugendlichen hier gar nicht so viel anders waren als die vom Festland. Vielleicht war Virgilio ja selbst schuld. Mit seiner Besessenheit von Recht und Ordnung hatte er mich am Ende von etwas überzeugt, was gar nicht stimmte. Vielleicht musste ich einfach aufhören, zu glauben, dass diese Insel noch nicht vom Elend der Welt angesteckt war. Vielleicht irrte sich mein Freund ja in allem. Auch in Ganci. Was, wenn der Alte doch ein skrupelloser Mensch war, der dank seiner schmutzigen Geschäfte ein Vermögen angehäuft hatte? Ein echter
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