Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011)
Seliger, »mach das mal im Dunkeln!«
Aber er glaubte jetzt, zumindest einen ersten Zugang zu der neuen Spielstufe gefunden zu haben. Es galt offenbar, alles, was bisher Geltung gehabt hatte, zu vergessen. Mit System war hier, wo nur noch der Zufall regierte, nichts auszurichten.
Seliger fing an, wie ein Verrückter den Joystick zu traktieren, der Avatar irrlichterte in immer neuen sinnlosen Sprüngen durchs Dunkel. Sonst geschah nichts. Schließlich kam es Seliger vor, als säße er schon tagelang so da. Dennoch konnte er nicht aufhören, den Blick nicht vom Schirm wenden, hatte alles um sich herum ausgeblendet.
Urplötzlich tauchte aus dem Nichts eine zweite Figur auf. Seliger fuhr zusammen, ließ vor Schreck den Joystick los. Das Leben auf dem Bildschirm erstarrte. Er sah genauer hin: Die zweite Figur ähnelte der ersten wie ein Ei dem anderen.
»Na also«, dachte Seliger, »da ist er endlich: mein Schatten.«
Er packte den Joystick und wagte vorsichtig einen ersten Sprung. Wie nicht anders erwartet, sprang der Schatten synchron mit. Das kannte er aus einem anderen Spiel. Dort hatte er sich lange an dem Problem die Zähne ausgebissen, bis er seinen Schatten durch den Sprung in einen Spiegel losgeworden war. Aber wo sollte er in diesem Nichts einen Spiegel finden?
Erneut durchmaß er wie schon zu Beginn jeden Millimeter Raum, diesmal in Begleitung des Schattens. Am Ende merkte er, dass er wieder dem Fehler verfallen war, systematisch vorzugehen. Er besann sich auf das Mittel, das schon zweimal geholfen hatte, und begann wieder sinnlos den Joystick zu traktieren. Nach einer Zeit, die ihm endlos schien, war immer noch nichts passiert. Vor seinen Augen tanzten zwei Irrlichter statt einem, es war zum Wahnsinnigwerden!
Seliger fühlte sich ausgedörrt. Seit er zu Hause fortgegangen war, hatte er nichts getrunken. Trotzdem konnte er das Bedürfnis, zur Toilette zu gehen, nicht länger unterdrücken. Seine Blase stand vor dem Zerplatzen. Als er aufstehen wollte, spürte er seine Füße nicht mehr, knickte ein, schaffte es mit Mühe, sich zurück auf den Stuhl sinken zu lassen.
Er blickte sich um, ob ihn jemand beobachtete. Das Café war leer. Nicht einmal Theo war auf seinem üblichen Platz. Draußen um den Goldbrunnen waren die Straßenlaternen längst ausgegangen. Die Morgendämmerung zog herauf.
Seliger schleppte sich auf die Toilette. Sein Körper fühlte sich an wie mit Nadeln gespickt. Das Wasserlassen tat weh. Er hatte es zu lange unterdrückt. Als er beim Händewaschen in den Spiegel blickte, sah er in die starren Augen seines Avatars. Er presste die Stirn gegen das Glas. Der Spiegel gab nicht nach. Seliger lachte auf. Hohl hallte es zwischen den gekachelten Wänden. Er hielt den Kopf unters kalte Wasser, schüttelte sich, trocknete die Haare mit Papiertüchern ab. Ging wieder hinaus.
»Wollen Sie auch einen Kaffee?«, fragte Theo, der gerade aus der kleinen Küche hinter dem Tresen kam.
»Nein, danke, ich muss zur Arbeit«, sagte Seliger und verließ eilig das Café, ohne noch einmal an den Platz hinter der Yuccapalme zurückzukehren.
Am Abend kam er übermüdet nach Hause. Während er sich in Schuhen aufs Bett fallen ließ, fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, sich im »Netz«auszuloggen.
Eine Woche blieb Seliger dem Internetcafé fern. Dann hielt er es nicht länger aus.
»Hier, den haben Sie neulich vergessen!«, begrüßte ihn Theo mit seinem Nutzer-Ausweis in der Hand.
»Danke«, sagte Seliger, nahm die Plastikkarte und ging an seinen Stammplatz.
Nachdem er die ersten neun Level durchgespielt hatte, kam er ohne Verzögerungen zu seinem Avatar. Das Spiel schien die Angaben der letzten Sitzung gespeichert zu haben. Die erste flammende Botschaft lautete diesmal jedoch anders: »Wer das höchste Gut erringen will, muss sich selbst überwinden.«
»Toll!«, brummte Seliger und begann den Joystick zu traktieren. Er hatte vorsorglich eine Flasche Wasser dabei und zwang sich zu trinken. Er würde dieses elende Spiel knacken! Es galt nur, kühlen Kopf zu bewahren.
Als nach drei Stunden vergeblichen Kampfes sein Schatten nicht aufgetaucht war, klickte er auf die Escape-Taste, um für diesmal abzubrechen. Ohne Vorwarnung verwandelte sich das Schwarz des Bildschirms in blutiges Rot, das die Gestalt des Avatars völlig schluckte. Dafür erschien in schwarzer Schrift eine Botschaft: »Sie haben sich nicht selbst gefunden. Sie haben das höchste Gut nicht errungen. Ihr Leben ist nun zu Ende.«
Weitere Kostenlose Bücher