Der Tod wird euch finden - Al-Qaida und der Weg zum 11 September Ausgezeichnet mit dem Pulitzer Prize 2007
hatten im Dienstleistungsbüro in Peschawar zusammengearbeitet und gemeinsam in Afghanistan gekämpft, woraus eine sehr enge Bindung entstanden war, die niemand gefährden konnte. Im Unterschied zu fast allen anderen Menschen, die Bin Laden im Sudan um sich versammelte, hatte Abu Hadscher ihm nie formell die Treue gelobt; er betrachtete sich als ihm ebenbürtig, und so behandelte ihn Bin Laden auch. Wegen seiner Frömmigkeit und Gelehrsamkeit fungierte Abu Hadscher als Vorbeter; wenn er mit seiner wohlklingenden Stimme die Koranverse im melancholischen irakischen Singsang vortrug, rührte er Bin Laden zu Tränen. 34
Abu Hadscher war nicht nur Bin Ladens Freund, sondern auch sein Imam. Nur wenige Mitglieder der Qaida hatten eine religiöse Ausbildung genossen. Trotz ihres Eiferertums waren sie theologische Amateure. Abu Hadscher verfügte über die größte spirituelle Autorität, weil er den Koran auswendig aufsagen konnte, aber er war eigentlich Elektroingenieur, kein Geistlicher. Dennoch bestellte ihn Bin Laden zum Leiter des Fatwa-Ausschusses der Qaida - eine verhängnisvolle Entscheidung. Abu Hadscher trug maßgeblich dazu bei, dass sich die Qaida aus einer antikommunistischen Armee, als die sie Bin Laden ursprünglich konzipiert hatte, zu einer terroristischen Organisation wandelte, die ihre Aufgabe darin sah, die Vereinigten Staaten zu bekriegen, die letzte verbliebene Supermacht, die nach Ansicht von Bin Laden und Abu Hadscher die größte Bedrohung für den Islam darstellte.
Weshalb wandten sich diese Männer gegen Amerika, ein Land, das ebenfalls stark von der Religion geprägt war und in Afghanistan noch ihr Verbündeter gewesen war? Der Hauptgrund bestand darin, dass sie Amerika als den Hort der Macht des Christentums betrachteten. Die Gottergebenheit der muslimischen Mudschahidin und die Frömmigkeit der christlichen Führer der USA hatten einst ein Bindeglied zwischen ihnen gebildet. Die Führer der Mudschahidin wurden von der amerikanischen Presse hofiert und unternahmen Vortragsreisen durch amerikanische Kirchen, wo sie wegen ihres Mutes und ihrer spirituellen Standhaftigkeit gefeiert wurden im gemeinsamen Kampf gegen den Marxismus und die Gottlosigkeit. Doch das Christentum - insbesondere die evangelikale amerikanische Spielart - und der Islam waren offensichtlich konkurrierende Glaubensrichtungen. Aus dem Blickwinkel von Männern, die geistig im 7. Jahrhundert verankert waren, erschien das Christentum nicht nur als Rivale, sondern als Erzfeind. Sie fassten die Kreuzzüge als einen fortdauernden historischen Prozess auf, der erst durch den endgültigen Sieg des Islams sein Ende finden würde. Gleichzeitig war ihnen schmerzlich der Niedergang bewusst, der durch den langen, stetigen Rückzug des Islams verkörpert wurde, der am 11. September 35 - mittlerweile ein neues geschichtsträchtiges Datum - 1683 vor den Toren Wiens begonnen hatte, als der polnische König Johann III. Sobieski jene Schlacht am Kahlenberg eröffnete, in der die bis dahin immer weiter vorrückenden muslimischen Armeen erstmals wieder zurückgeworfen wurden. In den folgenden drei Jahrhunderten stand der Islam im Schatten der expandierenden christlichen Gesellschaften. Doch Bin Laden und seine arabischen Afghanen waren überzeugt, dass sie in Afghanistan das Blatt gewendet hätten und der Islam nun wieder auf dem Vormarsch sei.
Jetzt aber standen sie der größten militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Macht gegenüber, die jemals eine Gesellschaft hervorgebracht hatte. „Ein Dschihad gegen Amerika?“, fragten einige al-Qaida-Mitglieder zweifelnd. „Amerika weiß alles über uns. Es kennt sogar die Marken unserer Unterwäsche.“ 36 Sie sahen, wie schwach und zerstritten ihre Regierungen waren - viele konnten sich nur deshalb halten, weil Amerika an der Bewahrung des Status quo interessiert war. Auf den Meeren, in der Luft und sogar im Weltall patrouillierten die Amerikaner. Amerika war nicht weit weg - es war allgegenwärtig.
Die Ökonomen der Qaida verwiesen auf „unser Öl“, das Amerikas rasante Expansion vorantrieb, und erweckten den Eindruck, als sei ihnen etwas geraubt worden - nicht eigentlich das Öl, obwohl Bin Laden glaubte, es werde unter Wert verkauft, sondern die geistig-kulturelle Erneuerung, die durch seinen Verkauf hätte ermöglicht werden können. In den erschreckend unproduktiven Gesellschaften, in denen sie lebten, schmolzen Vermögen dahin wie Schnee in der Wüste. Es blieb nur das diffuse
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