Der Tod wird euch finden - Al-Qaida und der Weg zum 11 September Ausgezeichnet mit dem Pulitzer Prize 2007
Handbreit lang sein müsse. Wer dagegen verstieß, kam ins Gefängnis, bis seine Gesichtsbehaarung entsprechend gewachsen war. Männern mit „beatleartigen“Haaren wurde der Schädel geschoren. 38 Wenn eine Frau unverschleiert das Haus verließ, sollte „ihr Haus gekennzeichnet und ihr Mann bestraft werden“, verlangten die Strafgesetze der Taliban. Die Tiere im Zoo - soweit sie unter den Vorgängerregierungen nicht gestohlen worden waren - wurden getötet oder man ließ sie verhungern. Ein fanatischer, vielleicht auch wahnsinniger Taliban stieg zu einem Bären in den Käfig und schnitt ihm die Nase ab, angeblich weil der „Bart“des Tieres nicht lang genug war. Ein anderer Kämpfer sprang, berauscht durch die Ereignisse und das Gefühl seiner Macht, in ein Löwengehege und schrie: „Ich bin jetzt der Löwe!“Der Löwe tötete ihn. Daraufhin warf ein anderer Taliban-Soldat eine Handgranate in das Gehege, wodurch das Tier erblindete. Diese beiden Tiere, der nasenlose Bär und der blinde Löwe, waren neben zwei Wölfen die einzigen Zootiere, die die Taliban-Herrschaft überlebten. 39 „Werft die Vernunft vor die Hunde“, stand auf einem Plakat an der Mauer der Religionspolizei, die von den Saudis ausgebildet wurde. „Sie stinkt nach Verkommenheit.“ 40 Dennoch hieß das afghanische Volk, zutiefst erschöpft vom Krieg, die Einführung der neuen Ordnung zunächst willkommen.
WÄHREND SICH Bin Laden in Dschalalabad einrichtete, befand sich sein Militärchef Abu Ubajdah in Ostafrika, wo er sich um die al-Qaida-Zelle kümmerte, die dort zwei Jahre zuvor gegründet worden war. Der ehemalige ägyptische Polizist war bei der al-Qaida sehr geachtet. Sein Mut war legendär. Er hatte Bin Laden im Krieg gegen die Sowjets begleitet, war stets an seiner Seite gewesen, von der Löwenhöhle bis zur Belagerung von Dschalalabad. Manche meinten, wenn Sawahiri Bin Ladens Gehirn beherrschte, dann besaß Ubajdah sein Herz. Er war Bin Ladens verlässlichster Sendbote und wurde häufig eingesetzt, um zwischen al-Qaida und al-Dschihad zu vermitteln. Er bildete Mudschahidin in Bosnien, Tschetschenien, Kaschmir und Tadschikistan aus und gewann wertvolle Rekruten für die al-Qaida-Lager. In Kenia hatte er eine neue Identität angenommen und eine Einheimische geheiratet, wobei er behauptet hatte, in der Minenindustrie zu arbeiten, während er in Wirklichkeit al-Qaidas ersten großen Schlag gegen Amerika vorbereitete.
Am 21. Mai 1996, drei Tage nachdem Bin Laden aus dem Sudan nach Afghanistan abgereist war, saßen Abu Ubajdah und sein kenianischer Schwager Aschif Mohammed Dschuma auf einer überladenen Fähre auf dem Victoriasee und waren unterwegs nach Tansania. 41 Einer der Ballasttanks war leer, und am frühen Morgen kenterte die Fähre in stürmischer See. Dschuma schaffte es, durch die Tür der Kabine auf den Gang zu kommen, aber die fünf übrigen Passagiere saßen in dem winzigen Abteil in der Falle. Die Tür befand sich jetzt über ihnen, und durch eine offene Luke drang Wasser ein. Die Fahrgäste kreischten, Gepäck und Matratzen stürzten auf sie herab, sie klammerten sich aneinander, um zur Tür zu kommen, ihrer einzigen Rettungsmöglichkeit. Dschuma packte Ubajdah bei der Hand und zerrte ihn durch den halben Raum, plötzlich aber wurde die Tür aus den Angeln gerissen, und der Militärchef der Qaida wurde in den Raum zurückgeschleudert zu seinen todgeweihten Mitreisenden.
BIN LADEN war nun an einem Tiefpunkt seines politischen Lebens angelangt.
Abu Ubajdah war nicht der einzige Verlust, den er hinzunehmen hatte. Andere Weggefährten, wie Abu Hadscher, entschlossen sich, Bin Laden nicht erneut nach Afghanistan zu folgen. Der Saudi war weitgehend isoliert, hatte sein Vermögen zum größten Teil verloren und war abhängig vom Wohlwollen einer ihm unbekannten Macht, aber dennoch war er nicht gebrochen oder niedergeschlagen. Er lebte in zwei Sphären, einer realen und einer heiligen. Der Flug nach Dschalalabad und seine momentane missliche Lage dürften ihm einerseits als der Weg in ein Exil erschienen sein, das keine Hoffnung bot, in spiritueller Hinsicht jedoch deutete er es als seine persönliche Reprise einer entscheidenden Phase im Leben des Propheten, der im Jahr 622, geächtet und der Lächerlichkeit preisgegeben, aus Mekka vertrieben wurde und nach Medina floh. Die Hedschra oder Auswanderung, wie dieses Ereignis später genannt wurde, war so ein einschneidender Wendepunkt, dass mit ihr die islamische
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