Der Tod wirft lange Schatten
Atem. Er hatte keine Chance. Bei der Banca di Roma bog der Golf rechts ab und verschwand aus seinem Blickfeld. Die Straße führte hinauf auf den Colle di San Giusto, er würde ihn nicht mehr einholen können.
»Va in mona, nonno!« Als Galvano zu seinem Auto zurückkam, wurde er mit einem Hupkonzert und wüsten Beschimpfungen empfangen, und ausgerechnet eine Polizeistreife stand ein paar Wagen dahinter, aus der bereits ein Beamter ausgestiegen war und mit Dienstblick auf ihn zukam.
»Ist etwas passiert?« fragte der junge Polizist, den er nicht kannte. Das Hupkonzert und die Beschimpfungen verstummten schlagartig.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte Galvano.
»Geben Sie mir bitte Ihre Papiere.« Galvano war froh, daß der Mann mit sizilianischem Zungenschlag sprach. Mit dem würde er verhandeln können.
Galvano tastete seine Taschen ab. »Ich muß sie zu Hause vergessen haben«, stammelte er verlegen. »Aber ich kann alles erklären.«
»Fahren Sie ihren Wagen rechts ran.« Der junge Beamte tat seine Pflicht. Der alte Mann schien verwirrt zu sein, aber das befohlene Manöver führte er besser aus, als anzunehmen war. Eine Fahrradfahrerin stand nur zwei Meter entfernt und beobachtete seelenruhig die Szene.
»Es dürfte kein Problem sein«, sagte Galvano selbstsicher. »Rufen Sie Ihren Kollegen, er kennt mich sicher.«
Auf ein Zeichen stieg der zweite Beamte aus. Noch ein neues Gesicht. Galvano hatte Pech. Nicht zu fassen, was sich in dem Jahr seit seiner Zwangspensionierung alles verändert hatte. Früher kannte er jeden mit Namen, ohne Ausnahme. »Hören Sie, rufen Sie auf der Questura an. Ich bin Doktor Galvano von der Gerichtsmedizin. Fragen Sie nach. Verlangen Sie Kommissar Laurenti. Dann klärt sich alles auf.«
»Regen Sie sich nicht auf«, sagte der junge Polizist ruhig. »Schließen Sie bitte Ihren Wagen ab und kommen Sie mit.«
Galvano blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen und sich in den Fond des Streifenwagens zu setzen. »Was soll das?« fragte er aufgeregt. »Wir befinden uns keine hundert Meter von der Questura. Warum gehen wir nicht hin!«
Der Beamte hörte nicht auf ihn und griff zum Funkgerät. Dann ließ er das Seitenfenster des Dienstwagens herunter und winkte die Radfahrerin zu sich, die dem Geschehen zuschaute. »Haben Sie etwas mit dem Herrn zu tun?«
Die kleine Frau schüttelte grinsend den Kopf.
»Dann fahren Sie weiter.« Der Polizist schloß das Fenster und wandte sich wieder an Galvano. »Also, wie sagten Sie, ist Ihr Name?«
Er wiederholte die Angaben per Funk und staunte über das Lachen des Kollegen in der Zentrale.
»Geben Sie ihn mir«, sagte die Stimme aus dem Lautsprecher.
Der Polizist reichte Galvano das Funkgerät und erkannte schon an den ersten Worten, daß der alte Mann die Wahrheit sagte.
»Die Hitze«, antwortete Galvano auf die Frage, was passiert sei. »Die Hitze macht doch alle verrückt. Irgendein Idiot hat mir eine Beule in den Wagen gefahren und ist abgehauen. Wenn man euch braucht, seid ihr nie da. Also habe ich versucht, ihm hinterherzufahren, doch hatte ich keine Chance. Am Corso Italia bin ich ausgestiegen, um wenigstens das Kennzeichen sehen zu können, doch da kam schon ihr übereifriger Kollege und hat alles vermasselt.«
»Passen Sie auf sich auf, Doktor«, sagte die Stimme im Lautsprecher. »Geben Sie mir den Kollegen wieder.«
Nach ein paar Worten hängte der Polizist ein, öffnete Galvano respektvoll die Tür und erhielt eine schroffe Abfuhr, als er ihm freundlicherweise beim Aussteigen helfen wollte.
»Sie sollten auf direktem Weg nach Hause fahren und Ihre Papiere holen«, sagte der Polizist. Und die Radfahrerin schnauzte er an: »Bist du frühpensioniert oder was machst du noch immer hier? Zieh endlich Leine, es gibt nichts zu sehen.«
*
Aus der Ferne war Donnergrollen zu vernehmen. Über dem Golf im Westen stand eine pechschwarze Wolkenwand und schoß grelle Blitze ab. Der Himmel über Triest jedoch war heiter wie meistens, und die Hoffnung auf die ersten Niederschläge seit Mitte Februar vergebens.
Nur die langen Schatten, die die mächtigen Paläste im Zentrum warfen, zeigten den frühen Abend an. Als Proteo Laurenti den Trutzbau der Questura verließ, war kein Windhauch zu spüren. Schon bald wies sein Hemd große Schweißflecken auf. Auf weißem oder gestreiftem Stoff waren sie nicht so leicht zu sehen wie auf den blauen Hemden, die er nur noch im Winter trug.
»Komme gleich wieder«, stand auf dem handgeschriebenen
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