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Der Tod wirft lange Schatten

Der Tod wirft lange Schatten

Titel: Der Tod wirft lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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was es bedeutete, die letzten Tage an einem Ort zu verbringen. Sie würde Freiwild sein und alles über sich ergehen lassen müssen, was diesem Sadisten in den Sinn kam. Aber schlimmer noch als die zu erwartenden Quälereien war, daß er ihr alles abnehmen würde, was sie mühsam und heimlich zur Seite legen konnte. Wenn er in die Mansarde kommen würde, um sie zum Bahnhof zu bringen, würde die schlimmste Demütigung beginnen. Sie hatte mit ansehen müssen, wie er mit anderen umgesprungen war. Zuerst würde er ihre Tasche auspacken und jeden Gegenstand untersuchen. Manches davon würde er ihr wegnehmen. Dann müßte sie sich vor ihm ausziehen und er würde den Saum eines jeden Kleidungsstücks abtasten. Danach würde er die Untersuchung bei ihr fortsetzen, und sie natürlich wieder vergewaltigen. Danach würde sie kaum Zeit haben, ihre Sachen in den Rucksack zu stopfen, er würde sie beschimpfen und sich über sie lustig machen. Noch schlimmer aber war es, Triest, das sie nun seit einigen Monaten kannte, verlassen zu müssen und an einem fremden Ort, wieder von vorne anzufangen und den nächsten Chef zu erdulden.
    Irina hatte es eilig. Sie mußte den Schalter einer Geldwechselstube an der Piazza Ponterosso aufsuchen, ohne daß sie entdeckt würde. Es war die einzige Möglichkeit, Geld nach Hause zu schicken. Weder sie noch die Verwandten verfügten über ein Bankkonto. Sie konnte nicht einfach zur Post gehen und das Geld einzahlen. Einmal hatte sie versucht, es per Brief zu schicken. Es kam niemals an. Die Geldwechselstube war Teil des Netzes, mit dem die Organisation seit Beginn der Reise an ihr verdiente: die Visabeschaffung, der Bus nach Berlin, das Geld, das sie vorweisen mußte, um nach Westeuropa einzureisen und die Zinsen dafür, die schäbigen Bleiben, in denen sie schlafen sollte und die kleinen Gegenstände, mit denen man sie betteln schickte und für die sie einen vielfach überhöhten Preis bezahlte. Und natürlich auch die Geldsendungen an die Verwandten. Als Wechselstuben getarnte Annahmestellen, die von der Polizei unbehelligt ihrem Geschäft nachgingen, organisierten den Transfer. Alle Illegalen waren auf diese Wucherinstitutionen angewiesen, die satte Provisionen von dem wenigen, hartzusammengetragenen Geld einbehielten. Von fünfhundert Euro bekämen die Verwandten höchstens 350 ausbezahlt, wenn vor Ort alles gut ginge. Manchmal kam nur die Hälfte an. Für die Verwandten war es immer noch eine stolze Summe.
    Mehrfach zog sie ihre Runde um die Wechselstube herum und vergewisserte sich, daß sie nicht beobachtet wurde. Und auch als sie das Lokal verließ, zögerte sie und sondierte durch die Glastür die Umgebung, bis der Mann hinter dem Schalter sie grob aufforderte, zu verschwinden. Irina ignorierte seine Gesten noch einen Augenblick und eilte schließlich in eine Bar nebenan, wo sie außer Atem ihre Kärtchen und die Schlüsselanhänger auf den Tisch legte.
    Heute mußte sie den alten Mann mit dem schwarzen Hund unbedingt finden. Nur er könnte ihr helfen. Noch immer trug sie den Zettel von der Gepäckaufbewahrung mit sich. Nach dem Vorfall von gestern konnte sie unmöglich in den Bahnhof zurück. Ängstlich und nervös setzte sie ihre Runde durch die Stadt fort und änderte dabei ständig ihre Route.
    *
    »Also, den Kraken putzt man so.« In der Küche standen Marco, Patrizia und Santo, der Starfriseur. Marco war davon überzeugt, daß dessen Halbwertszeit an der Seite Patrizias längst überschritten war. Das Ferkel stand hinter seiner Schwester und rieb sich an ihr, während sie sich erklären ließ, wie man die Fische schuppte, ausnahm und filetierte.
    »Hier der Krake: Zuerst zieht man ihm die Haut ab, vom Kopf und von den Tentakeln. So!« Er machte ein paar gekonnte Schnitte, dann reichte er das Messer seiner Schwester und forderte sie auf, es selbst zu versuchen. »Könntest du der Dame mal ein bißchen vom Hinterteil weichen«, sagte er zu Santo und schob ihn mit seinen schmutzigen Händen ein Stück zur Seite.
    »Warum bekommt man immer gleich eine Familie dazu, wenn man sich verliebt?« Der Mann, der gut fünfzehn Jahre älter war als er, bewegte sich keinen Millimeter. »In Neapel essen wir ihn mit der Haut. Sie ist sehr knusprig.«
    »Das ist doch kein Hühnchen.« Marco schnitt eine Grimasse, die nur seine Schwester sah. »Das da«, sagte Marco, »ist das Auge. Das legen wir beiseite und braten es für Santo zusammen mit der Haut.« Er nahm seiner Schwester das Tier aus den Händen.

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