Der Todesstoss
Andrej. »Ich warte nur
darauf, dass sämtliche Klosterbewohner angestürmt kommen.
Laut genug geschrien hast du ja.«
»Du machst Fehler«, sagte Abu Dun. »Aber das passiert dir
sonst nie.
Nicht solche Fehler.«
»Ich bin unruhig«, antwortete Andrej fahrig. »Lass uns
weitergehen. Wir haben nicht sehr viel Zeit.«
»Aber diesmal gehe ich voraus«, antwortete Abu Dun.
Er ging los, ohne Andrejs Antwort abzuwarten, und trat
geduckt durch die offen stehende Pforte, die in einen der großen
Torflügel eingelassen war.
Andrej folgte ihm. Der kurze Torgang war vollkommen
dunkel, und auch der dahinter liegende Hof lag völlig unbeleuchtet da. In dem wuchtigen Geviert, das den Hof
einrahmte, brannte nicht ein einziges Licht, und es war
vollkommen still.
Andrej spürte etwas. Etwas Altes und Wohlvertrautes, vor
dem er trotzdem zurückschrak wie eine Hand vor glühendem
Eisen. Etwas regte sich in ihm.
Zuallererst glaubte er, es wäre noch immer die Schwärze, die
nach dem Wechsel am Grunde seiner Seele zurückgeblieben
war, aber das stimmte nicht. Es war nichts Fremdes, sondern
etwas, das immer Teil seiner selbst gewesen war, auch wenn er
es bisher mühsam unterdrückt hatte.
Gier.
Er spürte eine noch sachte, aber rasch stärker werdende Gier,
ziellosen Hunger, der sich langsam in ihm auszubreiten begann,
bald aber schon zu einem unerträglichen Brennen und Wühlen
ansteigen würde.
»Dort vorne. Das muss der Eingang sein. Wenigstens was das
betrifft, scheint Birger die Wahrheit gesagt zu haben.«
Andrej hatte Mühe, Abu Duns Worten zu folgen. Er zitterte
am ganzen Leib.
Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn, und es fiel ihm
zunehmend schwer, auch nur das Schwert festzuhalten. Von der
Klinge tropfte noch das Blut des Posten, den er erschlagen
hatte, und sein Geruch schien immer intensiver zu werden.
Ohne eine Antwort abzuwarten schlich Abu Dun weiter und
verschmolz nach wenigen Schritten mit dem Schatten des
Treppenhauses. Andrej folgte ihm erst, als er das Geräusch der
Tür hörte und ein roter Schimmer auf den Hof fiel.
Hinter der Tür, die so niedrig war, dass nicht nur Abu Dun,
sondern auch er selbst sich bücken musste, um die Schwelle zu
passieren, führte eine schmale, sehr steile Treppe in die Tiefe.
An ihrem unteren Ende flackerte rotes Licht.
Brandgeruch schlug ihnen entgegen, vermischt mit den
unverwechselbaren Ausdünstungen eines Kerkers: Blut und
eingetrocknete Exkremente, saurer Angstschweiß und der
Odem un-endlichen Leides, von dem dieser Ort so viel
aufgesogen zu haben schien, dass es zu einem festen Bestandteil
seiner Wände geworden war. Etwas in Andrej schrak vor
diesem Geruch zurück, aber etwas anderes, Schreckliches
schien zu jubilieren und dieses teuflische Gemisch einzuatmen
und sich daran zu laben wie an einem Becher uraltem
köstlichem Wein. Es kostete ihn fühlbare Anstrengung, dem
Nubier in die Tiefe zu folgen.
Die Treppe endete in einem winzigen halbrunden Raum, von
dem zwei Gittertüren abzweigten, die in finstere Gänge mit
niedrigen gewölbten Decken führten. Am Ende des einen
flackerte das rote Licht, dessen Schimmer sie schon gesehen
hatten, am Ende des anderen herrschte vollkommene
Dunkelheit.
»Von zwei Gängen hat er nichts gesagt«, flüsterte Abu Dun.
Er sah Andrej fragend an, aber der konnte nur mit einem
Schulterzucken antworten. Noch am Morgen hätte er Abu Dun
sagen können, wie viele Männer sich am Ende des jeweiligen
Ganges befanden, womit sie beschäftigt waren und wie viele
Gefangene es in den Zellen hier unten gab.
Jetzt sah und hörte er nicht mehr als der Nubier, vielleicht
sogar weniger.
»Wir können immer noch umkehren«, sagte Abu Dun.
»Wir können auch hier stehen bleiben und zaudern, bis
jemand kommt und uns einen Stuhl und einen Becher Wein
bringt.« Andrejs Stimme klang zornig. Auch das war … nicht in
Ordnung. Abu Dun und er stritten oft, aber meistens waren es
nur halb scherzhafte Auseinandersetzungen. Er war selten
wirklich ungeduldig. Etwas geschah mit ihm. Er wusste noch
immer nicht genau was, aber es machte ihm Angst.
Große Angst.
Abu Dun legte die Hand auf das in den dunklen Gang
führende Gitter.
Es schwang mit einem leisen Quietschen der eisernen Angeln
auf, die lange Zeit nicht mehr benutzt worden waren. Sofort zog
Abu Dun die Hand zurück und versuchte sein Glück bei der
anderen Tür. Auch sie ließ sich öffnen, aber deutlich leiser als
die andere. Abu Dun schob sie gerade weit genug auf, um seine
breiten
Weitere Kostenlose Bücher