Der Todesstoss
genommen
hatte, der nahezu die Hälfte des vorhandenen Raumes einnahm.
Andrej blieb stehen; schon weil es gar keinen zweiten Stuhl
gab. »Ich vermute, dass Ihr auf Euren Reisen eine Menge Dinge
gesehen habt. Dinge, die Euch wie Zauberei vorgekommen sein
müssen. Oder wie Hexenwerk?«
»Worauf wollt Ihr hinaus, Thobias?«, fragte Andrej.
Thobias schwieg einen Moment. Es war ihm anzusehen, wie
schwer es ihm fiel, weiterzusprechen. »Wir haben vorhin über
Hexerei gesprochen, Andrej, und Aberglauben und darüber, wie
leichtgläubig die Menschen doch sind. Sagt, Andrej - glaubt Ihr
an Vampyre?«
Andrej erstarrte. »Wie?«, murmelte er. Eine eisige Hand
schien nach seinem Herzen zu greifen.
»Oder an Werwölfe?«, fuhr Thobias fort. »An Wiedergänger,
Untote und Wechselbälger?«
»Ich … ich verstehe nicht …«, murmelte Andrej, aber Thobias
hörte gar nicht zu. Vielleicht hatte er sich die Worte mühsam
zurechtgelegt und konnte nicht anders, als seinen Text
aufzusagen.
»Ich habe früher nicht daran geglaubt«, fuhr er fort, »und ich
glaube auch jetzt noch nicht daran - zumindest nicht in dem
Sinne, in dem die meisten daran glauben. Obwohl ich das hier
mit eigenen Augen gesehen habe.«
Er griff in eine Schublade seines Schreibtisches und zog ein
Pergament heraus, das er über den Tisch in Andrejs Richtung
schob.
Diesmal gelang es Andrej nicht mehr, sein Erschrecken zu
unterdrücken.
Auf dem Pergament war eine mit wenig Kunstfertigkeit, dafür
aber mit umso größerer Akribie angefertigte Tuschezeichnung
zu sehen, die eine Kreatur aus Mensch und Bestie darstellte. Sie
sah aus wie ein Wolf, aber zweibeinig und aufrecht gehend, mit
einem schrecklichen, schiefen Gebiss und furchtbaren
Klauenhänden.
»Ich bin kein großer Künstler«, sagte Thobias, als müsse er
sich für die mangelnde Qualität seiner Zeichnung
entschuldigen. »Aber genau das ist es, was ich in jener Nacht
vor drei Jahren gesehen habe.«
Andrej legte das Pergament zurück. Sein Herz klopfte.
»Ich war damals noch ein junger Novize«, fuhr Thobias fort.
»Ich dachte, ich wüsste alles und hätte die Antwort auf alle
Fragen. Und natürlich wusste ich, dass es so etwas wie
Ungeheuer und Hexen nicht gibt. Dann traf ich diese … diese
Kreatur. Sie tötete drei meiner Begleiter und verletzte meinen
Vater und mich schwer. Aber wir überlebten, und seither
versuche ich, das Geheimnis dieser … Geschöpfe zu
ergründen.«
»Und was hat das Mädchen damit zu tun?«
»Imret? Birgers Tochter?«
Andrej war überrascht. »Ihr kennt seinen Namen?«
»Wir sind zusammen aufgewachsen«, antwortete Thobias.
»Birger und Ihr?« Andrej war nicht sicher, ob er Thobias
richtig verstand.
»Birger«, bestätigte Thobias. »Er ist mein Pate -habe ich das
nicht erwähnt?«
Andrej starrte den jungen Geistlichen vollkommen
verständnislos an.
Thobias fuhr jedoch ohne Pause fort: »Bis vor fünf Jahren
war Trentklamm ein kleiner Ort mit gottesfürchtigen Menschen,
die ihre Arbeit taten, in die Kirche gingen und sich um ihre
Lieben kümmerten. Und eigentlich ist das auch jetzt noch so.«
Hätte Thobias nicht diesen sonderbaren Blick gehabt und mit
einer Stimme gesprochen, als rede er mehr mit sich selbst, dann
hätte Andrej ihn an dieser Stelle unterbrochen, denn der
Eindruck, den Abu Dun und er von diesem Ort und seinen
gottesfürchtigen Menschen gewonnen hatten, war ein völlig
anderer. Aber er war beinahe sicher, dass Thobias ihm gar nicht
zugehört hätte. Man konnte dem jungen Priester ansehen, wie
ihm die Erinnerung zu schaffen machte, die er mit seinen
eigenen “Worten heraufbeschwor, und so fasste er sich in
Geduld und hörte weiter zu.
»Irgendwann begann es«, berichtete Thobias. »Seltsame
Geräusche, die die Menschen nachts aus dem Schlaf rissen.
Unheimliche Spuren im Schnee, und … Dinge, die den Mond
anheulten. Dann wurden die ersten Tiere gerissen.«
»Und schließlich Menschen«, vermutete Andrej.
Zu seiner Überraschung schüttelte Thobias den Kopf. »Es
wurde ein Toter gefunden«, sagte er. »Ein schrecklich
verstümmelter Mensch, so schlimm, dass alle dachten, der
Teufel selbst sei aus der Hölle emporgestiegen, um den
Menschen zu zeigen, was sie im Jenseits erwartete. Auch ich
dachte das damals, aber heute glaube ich, dass es eine dieser
Kreaturen war. Niemand konnte sich vorstellen, dass es Gottes
Wille sei, so etwas zu erschaffen.«
»Wenn es Euren allmächtigen Gott wirklich gibt, dann habt
Ihr aber ein seltsames
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