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Der Todesstoss

Der Todesstoss

Titel: Der Todesstoss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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machte Andrej klar, welche Mühe
ihm diese einfache Handlung abverlangte. Es sah nicht so aus,
als würde er ein nennenswertes Stück gehen oder gar laufen
können.
»Eine Beerdigung«, antwortete Andrej.
»Eine Beerdigung? Jetzt?«
Andrej hob die Schultern. »Die Leute hier haben eben andere
Bräuche als bei uns.«
»Eine Beerdigung, Stunden vor Sonnenaufgang?« Abu Dun
runzelte die Stirn. »Das sind wahrlich sonderbare Bräuche. Wir
müssen von hier verschwinden.«
»Dazu ist es zu spät«, antwortete Andrej kopf-schüttelnd.
»Das Tal hat nur einen Ausgang. Wir würden ihnen direkt in die
Arme laufen.« Er zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln,
spürte aber selbst, wie kläglich es misslang. »Aber mach dir
keine Sorgen - niemand wird hier hereinkommen. In diesem
Raum ist seit mindestens zehn Jahren niemand mehr gewesen,
bevor wir kamen. Wenn wir kein verräterisches Geräusch
machen, passiert uns nichts.«
»Und wenn sie doch hereinkommen?«
»Dann lasse ich mir Flügel wachsen und fliege davon«, sagte
Andrej.
»Und du bist in Schwierigkeiten.«
»Sehr komisch«, murrte Abu Dun. Er machte einen
vorsichtigen Schritt, blieb stehen und lauschte einen Moment in
sich hinein, bevor er einen weiteren Schritt tat.
Andrej war mittlerweile zum Fenster gegangen. Er
befeuchtete seinen Daumen mit der Zunge und rieb ein
winziges Guckloch in den Schmutz auf der Scheibe, gerade
groß genug, um hindurchsehen zu können, aber um auf gar
keinen Fall von außen bemerkt zu werden.
    Seine Mühe wurde belohnt. Von seinem Standpunkt aus
konnte er sowohl das Tor als auch einen guten Teil des
Friedhofgeländes überblicken. Es verging nicht mehr viel Zeit,
bis der rote Feuerschein heller wurde und schließlich die ersten
Mitglieder der Prozession durch das schmiedeeiserne Tor
schritten.
    Andrej war nicht sehr überrascht, Vater Ludowig an der
Spitze der Prozession zu erblicken. Er trug keine Fackel, hatte
aber beide Hände um ein hölzernes Kruzifix geschlossen, und
seine Lippen bewegten sich unentwegt im Gebet.

Hinter ihm traten vier Männer durch das Tor, die einen
schlichten, aus frisch gehobelten Brettern gezimmerten Sarg
zwischen sich trugen. Er war vollkommen schmucklos und
offensichtlich in großer Hast gebaut, aber Andrej fiel selbst über
die große Entfernung auf, wie massiv die Bretter waren, aus
denen er bestand; und wie viele Nägel man benutzt hatte, um
den Deckel zu befestigen. Es war wie bei dem Grab, das sie vor
ein paar Tagen besichtigt hatten: Jemand schien wirklich großen
Wert darauf zu legen, dass der, der in diesem Sarg lag, auch
darin liegen blieb.
    Den Sargträgern folgten fünf oder sechs Männer in einfachen
Kleidern.
Hinter ihnen gingen vier weitere Männer, die einen zweiten
Sarg zwischen sich trugen.
»Zwei!«, flüsterte Abu Dun überrascht. Er stand neben
Andrej und hatte sich ein eigenes Guckloch gemacht. »Und sieh
nur, am Ende der Reihe. Das sind zwei weitere, nicht sehr alte
Gräber … nein, drei. Und ich dachte, das Leben in den Bergen
wäre so wohl-tuend.«
Andrej brachte Abu Dun mit einer ärgerlichen Geste zum
Verstummen.
Der Nubier hatte Recht: Die Grabreihe war deutlich länger
geworden, seit er zusammen mit Thobias und Vater Ludowig
hier gewesen war. Wieso war ihm das nicht aufgefallen? Er
hatte die Kapelle im Laufe der zurückliegenden drei Tage
häufig verlassen und wieder betreten.
Die Prozession näherte sich dem Ende der Grabreihe. Andrej
gab den Versuch auf, die Männer zu zählen oder ihre Gesichter
erkennen zu wollen, aber ihm fiel auf, dass es sich ausnahmslos
um Männer handelte. Keine Frauen, keine Kinder. Die beiden
Verstorbenen schienen keine besonders großen Familien gehabt
zu haben.
Die Särge wurden abgesetzt. Die Männer mit ihren Fackeln
bildeten einen dichten Halbkreis, in dessen Zentrum einige
Dörfler begannen, mit mitgebrachten Spitzhacken und
Schaufeln eine Grube auszuheben. Mit vereinten Kräften ging
die Arbeit schnell von der Hand. Trotzdem dauerte die gesamte
Zeremonie eine gute Stunde. Andrej war fremd in diesem Land
und kannte weder seine Menschen noch deren Sitten und
Gebräuche. Dennoch hatte er den Eindruck, keinem christlichen
Begräbnis zuzusehen - obwohl viele Kreuze zu sehen waren
und Vater Ludowig nahezu ununterbrochen betete.
Endlich wandten sich die Trauergäste - falls es überhaupt
solche waren - einer nach dem anderen um und gingen; nicht
mehr in einer geschlossenen Prozession, sondern in einzelnen
kleinen

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