Der Todschlaeger
seiner hellen
Stimme:
»Papa ist weg.«
»Er ist das Mittagessen einkaufen gegangen.
Hat er euch gesagt, daß ihr mich hier abholen
sollt?«
Claude schaute seinen Bruder an und zögerte,
da er nichts mehr wußte. Dann erwiderte er in
einem Zuge:
»Papa ist weg ... Er ist aus dem Bett
gesprungen, er hat seine ganzen Sachen in den
Koffer gepackt, er hat den Koffer
runtergebracht zu einem Wagen ... Er ist weg.«
Gervaise, die dahockte, erhob sich langsam
wieder mit weißem Gesicht und führte die
Hände an ihre Wangen und Schläfen, als höre
sie, wie ihr der Kopf auseinanderkrache. Und
sie konnte nur ein Wort finden, sie wiederholte
es unzählige Male in demselben Ton:
»Oh, mein Gott! – Oh, mein Gott! – Oh, mein
Gott!«
Inzwischen fragte nun Frau Boche das Kind
aus und war ganz Feuer und Flamme, bei
dieser Geschichte dabeizusein.
»Sieh mal, mein Kleiner, du mußt das alles
erzählen ... Er hat also die Tür abgeschlossen
und hat euch gesagt, daß ihr den Schlüssel
herbringen sollt, nicht wahr?« Und die Stimme
senkend, fragte sie an Claudes Ohr: »War denn
eine Dame im Wagen?«
Das Kind geriet erneut in Verwirrung. Es
begann seine Geschichte mit triumphierender
Miene von vorn:
»Er ist aus dem Bett gesprungen, er hat alle
Sachen in den Koffer gepackt, er ist weg ...«
Als Frau Boche ihn nun losließ, zog er seinen
Bruder vor den Wasserhahn. Sie hatten beide
ihren Spaß daran, das Wasser laufen zu lassen.
Gervaise konnte nicht weinen. Sie war am
Ersticken, hatte das Kreuz an ihren Zuber
gelehnt, das Gesicht noch immer in den
Händen. Kurze Schauer schüttelten sie. Dann
und wann strich ein langer Seufzer vorüber,
während sie sich die Fäuste noch fester auf die
Augen preßte, um gleichsam im schwarzen
Nichts ihrer Verlassenheit zu versinken. Ein
finsteres Loch war das, auf dessen Grund sie
zu fallen schien.
»Lassen Sie man gut sein, meine Kleine, zum
Teufel noch mal!« murmelte Frau Boche.
»Wenn Sie wüßten! Wenn Sie wüßten!« sagte
sie schließlich ganz leise. »Heute morgen hat
er mich losgeschickt, ich mußte meinen Schal
und meine Hemden zum Leihhaus bringen,
damit er diesen Wagen bezahlen kann ...« Und
sie weinte. Die Erinnerung an ihren Gang zum
Leihhaus hatte ihr durch die deutliche
Vergegenwärtigung eines Vorfalls vom
Morgen das Schluchzen entrissen, das ihr in
der Kehle würgte. Jener Gang war eine
Erbärmlichkeit, der heftige Schmerz in ihrer
Verzweiflung. Die Tränen flossen über ihr
Kinn, das ihre Hände schön naß gemacht
hatten, ohne daß sie auch nur daran dachte, ihr
Taschentuch zu nehmen.
»Seien Sie vernünftig, verhalten Sie sich still,
man sieht zu Ihnen her«, sagte Frau Boche
immer wieder, die sich um sie bemühte. »Das
ist doch gar nicht möglich, sich eines Mannes
wegen soviel Kummer zu machen! – Sie
liehen ihn also immer noch, was, mein armer
Liebling? Eben waren Sie ja ganz schön
aufgebracht über ihn. Und jetzt, da weinen Sie
über ihn, daß Ihnen fast das Herz zerbricht ...
Mein Gott, was sind wir dumm!« Dann zeigte
sie sich mütterlich: »Eine hübsche kleine Frau
wie Sie! Ist das denn die Möglichkeit! – Jetzt
kann man Ihnen ja alles erzählen, nicht wahr?
Na, Sie erinnern sich, als ich unter Ihrem
Fenster vorbeigegangen bin, ahnte ich ...
Stellen Sie sich vor, heute nacht, als Adèle
nach Hause gekommen ist, habe ich
zusammen mit ihrem Schritt den Schritt eines
Mannes gehört. Da hab ich Bescheid wissen
wollen, ich habe auf die Treppe geschaut. Der
Kerl war schon im zweiten Stock, aber ich
habe doch den Überzieher von Herrn Lantier
erkannt. Mein Mann, der heute morgen
aufpaßte, hat gesehen, wie er seelenruhig
wieder runterkam ... Das war mit Adèle,
verstehen Sie. Virginie hat jetzt einen Herrn,
zu dem sie zweimal in der Woche hingeht. Nur
ist das trotzdem nicht gerade anständig, denn
sie haben bloß ein Zimmer und einen Alkoven,
und ich weiß nicht recht, wo Virginie hat
schlafen können.« Sie hielt einen Augenblick
inne, wandte sich um und fuhr mit ihrer
groben Stimme gedämpft fort: »Sie lacht
darüber, daß sie Sie weinen sieht, diese
herzlose Person da drüben. Ich möchte meine
Hand ins Feuer legen, daß ihre Wäsche nur ein
Vorwand ist ... Sie hat die anderen beiden
wegspediert und ist hierhergekommen, um
ihnen zu erzählen, was für ein Gesicht Sie
machen würden.«
Gervaise nahm ihre Hände herunter, schaute
hin. Als sie Virginie vor sich
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