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Der Todschlaeger

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Titel: Der Todschlaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlo von der Birke
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daß sie bestimmt soeben in zehn
    Minuten

    von

    der

    Zollschranke
    heruntergehastet war, nachdem sie unterwegs
    getrödelt hatte. Meistens hatte sie sieben bis
    acht Minuten Verspätung; und bis zum Abend
    gab sie sich mit flehenden Augen sehr
    schmeichlerisch zu ihrer Tante und bemühte
    sich so, sie zu erweichen und zu verhindern,
    daß sie petzte. Frau Lerat, die die Jugend
    verstand, belog die Coupeaus, während sie
    Nana jedoch mit endlosem Geschwätz
    abkanzelte, worin sie von ihrer Verantwortung
    und von den Gefahren sprach, denen ein
    junges Mädchen auf dem Pariser Pflaster
    ausgesetzt sei. Ach, du lieber Gott, stelle man
    ihr selber nicht noch zur Genüge nach? Sie
    ließ ihre Nichte nicht aus den Augen, in denen
    es ständig flackerte vor schmutzigen
    Phantasien, sie war ganz aufgekratzt bei dem
    Gedanken, die Unschuld dieses armen
    Kätzchens zu hüten und zu hätscheln.
    »Siehst du«, sagte sie immer wieder zu ihr,
    »du mußt mir alles sagen. Ich bin zu gut zu dir,
    mir bliebe nichts weiter übrig, als mich in die
    Seine zu stürzen, wenn dir ein Unglück
    zustieße ... Hörst du, mein Kätzchen, wenn
    Männer dich ansprechen sollten, müßtest du
    mir alles wiedererzählen, alles, ohne ein Wort
    zu vergessen ... Na, hat man noch nichts zu dir
    gesagt, schwörst du es mir?«
    Dann lachte Nana mit einem Lachen, bei dem
    sie drollig den Mund verkniff. Nein, nein, die
    Männer sprächen sie nicht an. Sie gehe zu
    schnell. Außerdem, was hätten sie zu ihr sagen
    sollen? Sie habe doch gar nichts mit ihnen zu
    schaffen! Und mit dem Gesichtsausdruck eines
    Dummerchens gab sie Erklärungen für ihre
    Verspätungen: sie sei stehengeblieben, um sich
    Bilder anzusehen, oder sie habe Pauline
    begleitet, die Geschichten zu erzählen wisse.
    Man könne ihr ja nachgehen, wenn man ihr
    nicht glaube: sie verlasse niemals auch nur den
    linken Bürgersteig; und sie flitze ganz schön
    los, wie ein Wagen überhole sie alle anderen
    Fräulein. Eines Tages hatte Frau Lerat sie zwar
    in der Rue du PetitCarreau dabei überrascht,
    wie sie, die Nase in der Luft, mit drei anderen
    sich herumtreibenden Blumenmacherinnen
    lachte, weil sich ein Mann an einem Fenster
    rasierte; aber die Kleine war böse geworden
    und hatte geschworen, sie wolle gerade zu dem
    Bäcker an der Ecke hineingehen, um ein
    Brötchen für einen Sou zu kaufen.
    »Oh, ich passe auf, habt keine Angst«, sagte
    die lange Witwe zu den Coupeaus. »Ich bürge
    euch für sie wie für mich selbst. Wenn ein
    Dreckskerl sie bloß kneifen wollte, so würde
    ich mich eher dazwischenwerfen.«
    Die Werkstatt bei Titreville war ein großer
    Raum im Zwischengeschoß mit einem auf
    Böcken ruhenden breiten Werktisch, der die
    ganze Mitte einnahm. Längs der vier kahlen
    Wände, deren schmutziggraue Tapete durch
    zerschrammte Stellen den Gips sehen ließ,
    erstreckten sich die Regale, überfüllt mit alten
    Kartons, Paketen und ausgesonderten
    Modellen, die dort unter einer dicken
    Staubschicht vergessen worden waren. An der
    Decke war die Gasflamme wie ein rußiger
    Maurerpinsel vorübergestrichen. Die beiden
    Fenster waren so breit, daß die Arbeiterinnen,
    ohne den Werktisch zu verlassen, die Leute
    auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig
    vorbeilaufen sahen.
    Frau Lerat pflegte, um mit gutem Beispiel
    voranzugehen, als erste einzutreffen. Dann
    klappte eine Viertelstunde lang die Tür, und in
    buntem Durcheinander kamen schwitzend und
    mit aufgelöstem Haar alle kleinen
    Blumenmacherinnen herein.
    An einem Morgen im Juli stellte sich Nana als
    letzte ein, was im übrigen hinlänglich zu ihren
    Gewohnheiten gehörte. »Ach ja«, sagte sie,
    »es wäre kein Unglück, wenn ich einen Wagen
    hätte!« Und ohne erst ihren Hut abzunehmen,
    einen schwarzen Deckel, den sie ihre Mütze
    nannte und den aufzubügeln sie müde war, trat
    sie an das Fenster heran und beugte sich nach
    rechts und links hinaus, um auf die Straße zu
    sehen.
    »Was guckst du denn?« fragte Frau Lerat sie
    mißtrauisch. »Hat dich dein Vater begleitet?«
    »Nein, bestimmt nicht«, antwortete Nana
    seelenruhig. »Ich gucke nach nichts ... Ich
    gucke, daß es ganz schön heiß ist. Wirklich, da
    kann einer sich ja was wegholen, wenn man
    einen so rennen läßt.«
    Der Vormittag war drückend heiß. Die
    Arbeiterinnen hatten die Jalousien
    heruntergelassen, zwischen denen sie nach
    dem Treiben auf der Straße spähten, und
    schließlich hatten sie sich an die Arbeit
    gemacht, an beiden Seiten des

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