Der Todschlaeger
daß sie bestimmt soeben in zehn
Minuten
von
der
Zollschranke
heruntergehastet war, nachdem sie unterwegs
getrödelt hatte. Meistens hatte sie sieben bis
acht Minuten Verspätung; und bis zum Abend
gab sie sich mit flehenden Augen sehr
schmeichlerisch zu ihrer Tante und bemühte
sich so, sie zu erweichen und zu verhindern,
daß sie petzte. Frau Lerat, die die Jugend
verstand, belog die Coupeaus, während sie
Nana jedoch mit endlosem Geschwätz
abkanzelte, worin sie von ihrer Verantwortung
und von den Gefahren sprach, denen ein
junges Mädchen auf dem Pariser Pflaster
ausgesetzt sei. Ach, du lieber Gott, stelle man
ihr selber nicht noch zur Genüge nach? Sie
ließ ihre Nichte nicht aus den Augen, in denen
es ständig flackerte vor schmutzigen
Phantasien, sie war ganz aufgekratzt bei dem
Gedanken, die Unschuld dieses armen
Kätzchens zu hüten und zu hätscheln.
»Siehst du«, sagte sie immer wieder zu ihr,
»du mußt mir alles sagen. Ich bin zu gut zu dir,
mir bliebe nichts weiter übrig, als mich in die
Seine zu stürzen, wenn dir ein Unglück
zustieße ... Hörst du, mein Kätzchen, wenn
Männer dich ansprechen sollten, müßtest du
mir alles wiedererzählen, alles, ohne ein Wort
zu vergessen ... Na, hat man noch nichts zu dir
gesagt, schwörst du es mir?«
Dann lachte Nana mit einem Lachen, bei dem
sie drollig den Mund verkniff. Nein, nein, die
Männer sprächen sie nicht an. Sie gehe zu
schnell. Außerdem, was hätten sie zu ihr sagen
sollen? Sie habe doch gar nichts mit ihnen zu
schaffen! Und mit dem Gesichtsausdruck eines
Dummerchens gab sie Erklärungen für ihre
Verspätungen: sie sei stehengeblieben, um sich
Bilder anzusehen, oder sie habe Pauline
begleitet, die Geschichten zu erzählen wisse.
Man könne ihr ja nachgehen, wenn man ihr
nicht glaube: sie verlasse niemals auch nur den
linken Bürgersteig; und sie flitze ganz schön
los, wie ein Wagen überhole sie alle anderen
Fräulein. Eines Tages hatte Frau Lerat sie zwar
in der Rue du PetitCarreau dabei überrascht,
wie sie, die Nase in der Luft, mit drei anderen
sich herumtreibenden Blumenmacherinnen
lachte, weil sich ein Mann an einem Fenster
rasierte; aber die Kleine war böse geworden
und hatte geschworen, sie wolle gerade zu dem
Bäcker an der Ecke hineingehen, um ein
Brötchen für einen Sou zu kaufen.
»Oh, ich passe auf, habt keine Angst«, sagte
die lange Witwe zu den Coupeaus. »Ich bürge
euch für sie wie für mich selbst. Wenn ein
Dreckskerl sie bloß kneifen wollte, so würde
ich mich eher dazwischenwerfen.«
Die Werkstatt bei Titreville war ein großer
Raum im Zwischengeschoß mit einem auf
Böcken ruhenden breiten Werktisch, der die
ganze Mitte einnahm. Längs der vier kahlen
Wände, deren schmutziggraue Tapete durch
zerschrammte Stellen den Gips sehen ließ,
erstreckten sich die Regale, überfüllt mit alten
Kartons, Paketen und ausgesonderten
Modellen, die dort unter einer dicken
Staubschicht vergessen worden waren. An der
Decke war die Gasflamme wie ein rußiger
Maurerpinsel vorübergestrichen. Die beiden
Fenster waren so breit, daß die Arbeiterinnen,
ohne den Werktisch zu verlassen, die Leute
auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig
vorbeilaufen sahen.
Frau Lerat pflegte, um mit gutem Beispiel
voranzugehen, als erste einzutreffen. Dann
klappte eine Viertelstunde lang die Tür, und in
buntem Durcheinander kamen schwitzend und
mit aufgelöstem Haar alle kleinen
Blumenmacherinnen herein.
An einem Morgen im Juli stellte sich Nana als
letzte ein, was im übrigen hinlänglich zu ihren
Gewohnheiten gehörte. »Ach ja«, sagte sie,
»es wäre kein Unglück, wenn ich einen Wagen
hätte!« Und ohne erst ihren Hut abzunehmen,
einen schwarzen Deckel, den sie ihre Mütze
nannte und den aufzubügeln sie müde war, trat
sie an das Fenster heran und beugte sich nach
rechts und links hinaus, um auf die Straße zu
sehen.
»Was guckst du denn?« fragte Frau Lerat sie
mißtrauisch. »Hat dich dein Vater begleitet?«
»Nein, bestimmt nicht«, antwortete Nana
seelenruhig. »Ich gucke nach nichts ... Ich
gucke, daß es ganz schön heiß ist. Wirklich, da
kann einer sich ja was wegholen, wenn man
einen so rennen läßt.«
Der Vormittag war drückend heiß. Die
Arbeiterinnen hatten die Jalousien
heruntergelassen, zwischen denen sie nach
dem Treiben auf der Straße spähten, und
schließlich hatten sie sich an die Arbeit
gemacht, an beiden Seiten des
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