Der Todschlaeger
Papierkugeln
mehr in ihr Mieder. Sie hatte Bällchen
bekommen, ein Paar ganz neue Bällchen aus
weißem Atlas. Und das war ihr nicht gerade
lästig, sie hätte ganze Arme voll davon haben
mögen, sie träumte von Ammennuckeln, so
gierig und unbedacht ist die Jugend. Was sie
besonders lecker machte, war eine häßliche
Angewohnheit, die sie angenommen hatte,
nämlich ein Zipfelchen ihrer Zunge zwischen
ihren weißen Beißerchen hervorzustecken.
Vermutlich war sie sich so, wenn sie sich in
den Spiegeln betrachtete, nett vorgekommen.
Nun streckte sie den ganzen Tag über die
Zunge heraus, um schönzutun.
»Versteck doch deine Schwindlerin!« rief ihr
die Mutter zu.
Und oft mußte sich Coupeau einmischen, er
schlug mit der Faust zu und brüllte fluchend:
»Willst du wohl deinen roten Lappen wieder
einziehen!«
Nana gab sich sehr kokett. Sie wusch sich
nicht immer die Füße, wählte aber ihre
Halbstiefel so eng, daß sie im Gefängnis ihres
Schuhzeugs ein Martyrium erlitt; und befragte
man sie, wenn man sah, daß sie blau anlief, so
erwiderte sie, sie habe Leibschmerzen, um ihre
Koketterie nicht einzugestehen. Wenn das Brot
im Hause fehlte, fiel es ihr schwer, sich
herauszuputzen. Dann vollbrachte sie Wunder,
sie brachte Bänder aus der Werkstatt mit und
machte sich Toiletten zurecht, mit Schleifen
und Quasten bedeckte schmutzige Kleider. Der
Sommer war die Jahreszeit ihrer Triumphe.
Mit einem Perkalkleid zu sechs Francs
verbrachte sie alle Sonntage, sie erfüllte das
Viertel La Goutted'Or mit ihrer blonden
Schönheit. Ja, man kannte sie von den äußeren
Boulevards bis zu den Befestigungen und von
der Chaussée de Clignancourt bis zum
Boulevard de la Chapelle. Man nannte sie
»Puttchen«, weil sie tatsächlich das zarte
Fleisch und das frische Aussehen eines
Hühnchens hatte.
Besonders ein Kleid stand ihr vortrefflich. Es
war ein weißes Kleid mit rosa Tupfen, ganz
einfach, ohne Besatz. Der etwas kurze Rock
ließ ihre Füße frei; die weit offenen
herabfallenden Ärmel entblößten ihre Arme
bis zu den Ellbogen; der Halsausschnitt des
Mieders, den sie, um Vater Coupeaus
Maulschellen aus dem Wege zu gehen, in einer
dunklen Ecke der Treppe herzförmig
aufschlug und mit Stecknadeln festhielt, ließ
das schneeige Weiß ihres Halses und den
goldigen Schatten ihrer Brust sehen. Und
nichts weiter, nur ein um ihr blondes Haar
geschlungenes rosa Band, ein Band, dessen
Enden über ihrem Nacken umherflatterten. Sie
war darin frisch wie ein Blumenstrauß. Sie
roch gut nach Jugend, nach der Nacktheit des
Kindes und der Frau.
Die Sonntage waren zu dieser Zeit für sie Tage
des Stelldicheins mit der Menge, mit allen
Männern, die vorübergingen und sie mit
lüsternen Augen betrachteten. Von kleinen
Sehnsüchten gekitzelt, erstickend, von einem
Bedürfnis nach frischer Luft, nach einem
Spaziergang in der Sonne, im Gewühl der
sonntäglich gekleideten Vorstadt erfaßt,
wartete sie die ganze Woche darauf. Schon am
Morgen zog sie sich an, sie verweilte
stundenlang im Hemd vor der über der
Kommode aufgehängten Spiegelscherbe; und
da das ganze Haus sie durchs Fenster sehen
konnte, wurde ihre Mutter böse und fragte sie,
ob sie nicht bald damit fertig sei, im bloßen
Hemd herumzuspazieren. Aber mit nackten
Beinen und von den Schultern
herabgeglittenem Hemd klebte sie sich in der
Liederlichkeit ihres zerzausten Haars
seelenruhig mit Zuckerwasser Schmachtlocken
auf die Stirn, nähte die Knöpfe an ihren
Halbstiefeln fest oder machte einen Stich an
ihrem Kleid.
Oh, so sehe sie prima aus, sagte Vater
Coupeau, der grinste und sie aufzog; eine
richtige büßende Magdalena! Sie hätte als
Wilde auftreten und sich für zwei Sous sehen
lassen können. Er rief ihr zu: »Versteck doch
dein Fleisch, damit ich mein Brot essen kann!«
Und sie war anbetungswürdig, weiß und fein
unter dem Überquellen ihres blonden Vlieses,
ärgerte sich so sehr, daß ihre Haut davon rosig
wurde, wagte ihrem Vater nicht zu antworten
und zerbiß den Faden zwischen ihren Zähnen
mit einem schroffen und grimmigen Ruck, der
ihre Nacktheit, die Nacktheit eines schönen
Mädchens, mit einem Schauer erbeben ließ.
Gleich nach dem Mittagessen zog sie dann los,
sie ging auf den Hof hinunter. Die heiße Stille
des Sonntags schläferte das Haus ein; die
Werkstätten unten waren geschlossen, die
Wohnungen gähnten durch ihre offenen
Fenster und ließen schon für den
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