Der Todschlaeger
wohl,
und vielen Dank, Herr Coupeau ... Ich gehe
schnell zurück.«
Sie wollte den Boulevard entlanggehen. Aber
er hatte sie bei der Hand genommen, er ließ sie
nicht los und sagte:
»Kommen Sie doch mit mir mit, gehen Sie
durch die Rue de la Goutted'Or, das ist kaum
ein Umweg für Sie ... Ich muß zu meiner
Schwester gehen, bevor ich zur Baustelle
zurückkehre ... Wir können doch zusammen
gehen.«
Schließlich willigte sie ein, und sie gingen
langsam, Seite an Seite, ohne sich
unterzufassen, die Rue des Poissonniers
hinauf. Er erzählte ihr von seiner Familie.
Seine Mutter, Mama Coupeau, eine ehemalige
Westennäherin, habe wegen ihrer schwach
werdenden Augen Aufwartestellen. Am
Dritten des vergangenen Monats sei sie
zweiundsechzig Jahre alt geworden. Er sei der
Jüngste. Die einer seiner Schwestern, Frau
Lerat, eine Witwe von sechsunddreißig Jahren,
arbeite in der Blumenbranche und wohne in
der Rue des Moines in Les Batignolles. Die
andere, die dreißig Jahre alt sei, habe einen
Kettenmacher geheiratet, diesen Duckmäuser
Lorilleux. Zu der gehe er, und zwar in die Rue
de la Goutted'Or. Sie wohne in dem großen
Haus links. Abends esse er seinen Topf
Durcheinandergekochtes bei den Lorilleux;
das sei eine Ersparnis für alle drei. Er gehe
sogar bei ihnen vorbei, um ihnen Bescheid zu
sagen, daß sie nicht auf ihn warten sollten,
weil er heute von einem Freund eingeladen sei.
Gervaise, die ihm zuhörte, schnitt ihm jäh das
Wort ab, um ihn lächelnd zu fragen:
»Sie heißen also Schwarzbeersaft jung, Herr
Coupeau?«
»Oh«, antwortete er, »das ist ein Spitzname,
den mir meine Kumpels gegeben haben, weil
ich im allgemeinen Schwarzbeersaft trinke,
wenn sie mich mit Gewalt in eine
Weinschenke mitnehmen ... Lieber
Schwarzbeersaftjung als MeineBotten heißen,
nicht wahr?«
»Allerdings, Schwarzbeersaftjung, das klingt
nicht garstig«, erklärte die junge Frau. Und sie
fragte ihn über seine Arbeit aus.
Er arbeite immer noch dort hinter der
Zollmauer an dem neuen Hospital. Oh, an
Arbeit fehle es nicht, von dieser Baustelle
werde er in diesem Jahr bestimmt nicht
weggehen. Meter über Meter an Dachrinnen
gebe es da zu machen!
»Wissen Sie«, sagte er, »wenn ich da oben
stehe, sehe ich das Hotel Boncœur ... Gestern
waren Sie am Fenster, ich habe die Arme
geschwenkt, aber Sie haben mich nicht
bemerkt.«
Inzwischen waren sie schon etwa hundert
Schritt in die Rue de la Goutted'Or gegangen,
als er stehenblieb, nach oben blickte und sagte:
»Da ist das Haus ... Ich bin etwas weiter, in
Nummer zweiundzwanzig, geboren ... Aber
dieses Haus hier macht immerhin einen
hübschen Haufen Gemauertes aus! Groß wie
in einer Kaserne ist es da drin!«
Gervaise hob das Kinn und musterte die
Fassade. Nach der Straße hatte das Haus fünf
Stockwerke, und jedes reihte fünfzehn Fenster
schnurgerade nebeneinander, deren schwarze
Jalousien mit zerbrochenen Leisten dieser
ungeheuren Mauerfläche das Aussehen einer
Ruine verliehen. Unten nahmen vier Läden das
Erdgeschoß ein: rechts vom Tor die geräumige
Gaststube einer schmierigen Garküche, links
ein Kohlenhändler, ein Kurzwarenhändler und
eine Regenschirmhändlerin. Das Haus wirkte
um so riesenhafter, weil es sich zwischen zwei
niedrigen, dürftigen, kleinen Gebäuden erhob,
die eng an ihm klebten. Und viereckig, gleich
einem grob hingepfuschten Block Mörtel, der
im Regen verfaulte und abbröckelte, zeichnete
es auf dem klaren Himmel über den
benachbarten Dächern seinen riesigen
unbehauenen Würfel, seine unverputzten
schmutzfarbenen Seiten ab, die die endlose
Nacktheit von Gefängnismauern hatten und
auf denen Reihen von Verzahnungssteinen wie
altersschwache Kinnladen aussahen, die ins
Leere gähnten. Gervaise aber betrachtete vor
allem das Tor, ein ungeheures rundes Tor, das
bis zum zweiten Stock reichte und eine tiefe
Einfahrt aushöhlte, an deren anderem Ende
man das fahle plötzliche Tageslicht eines
großen Hofes sah. Mitten in dieser Toreinfahrt,
die wie die Straße gepflastert war, floß ein
Bach, der ganz zartrosa Wasser
fortschwemmte.
»Gehen Sie doch rein«, sagte Coupeau, »man
wird Sie nicht fressen.«
Gervaise wollte auf der Straße auf ihn warten.
Sie konnte sich jedoch nicht enthalten, in die
Toreinfahrt bis zur Conciergeloge
vorzudringen, die sich auf der rechten Seite
befand. Und dort an der Schwelle blickte sie
erneut nach oben. Innen hatten die Fassaden
sechs
Weitere Kostenlose Bücher