Der Todschlaeger
Stockwerke, vier regelmäßige Fassaden,
die das geräumige Viereck des Hofes
umschlossen. Es waren graue Mauern, die von
gelbem Aussatz zerfressen, durch das Tropfen
von den Dächern von Besudelungen streifig
waren und die ganz glatt ohne jedes Gesims
vom Pflaster bis zu den Schieferplatten
emporstiegen. Allein die Abflußröhren
bildeten einen Knick bei den einzelnen
Stockwerken, wo die klaffenden Kästen der
Ausgußbecken den Fleck ihres verrosteten
Gußeisens hinsetzten. Die Fenster, die keine
Jalousien hatten, ließen nackte Scheiben von
graugrüner Färbung wie trübes Wasser sehen.
Einige standen offen, und aus ihnen hingen
blaukarierte Matratzen zum Auslüften; vor
anderen trockneten auf gespannten Leinen
Wäschestücke, die gesamte Wäsche eines
Haushalts: die Hemden des Mannes, die
Unterhemden der Frau und die kurzen Hosen
der Buben. Im dritten Stock war ein Fenster, in
dem eine mit Unrat verkleisterte
Kinderunterlage ausgebreitet lag. Von oben bis
unten barsten nach außen die zu kleinen
Wohnungen, ließen Zipfel ihres Elends durch
alle Ritzen hinaus. Unten war für jede Fassade
eine hohe und schmale Tür ohne
Holzverkleidung, die in den kahlen Gips
eingelassen war und sich zur Höhlung eines
rissigen Hausflurs auf tat, in dessen
Hintergrund sich die schmutzigen Stufen einer
Treppe mit eisernem Geländer emporwanden;
und man zählte solcherweise vier Treppen, die
durch die auf die Mauer gemalten vier
Anfangsbuchstaben des Alphabets bezeichnet
waren. Die Erdgeschosse waren zu riesigen
Werkstätten ausgebaut, die von
staubgeschwärzten
Glasverschlägen
abgeschlossen wurden: das Schmiedefeuer
eines Schlossers loderte dort, weiter entfernt
war das Hobeln eines Tischlers zu hören,
während neben der Conciergeloge die
Werkstätte eines Färbers jenen zartrosa Bach
hervorsprudeln ließ, der unter der Toreinfahrt
hindurchfloß. Der Hof war verdreckt durch
Pfützen gefärbten Wassers, Hobelspäne und
Kohlenschlacke, an seinen Rändern zwischen
den aus den Fugen gegangenen Pflastersteinen
mit Gras bewachsen und wurde von grellem
Licht erhellt und gleichsam durch die Linie,
wo die Sonne aufhörte, in zwei Teile
zerschnitten. Auf der Schattenseite pickten
rings um die Wasserleitung, die dort für
ständige Feuchtigkeit sorgte, drei Hühnchen
auf der Erde herum und suchten mit
schmutzigen Pfoten nach Regenwürmern.
Und Gervaise ließ ihren Blick langsam
umherschweifen, ließ ihn vom sechsten Stock
bis zum Pflaster sinken und wieder
emporsteigen, war überrascht von dieser
ungeheuren Größe und kam sich vor wie
mitten in einem lebenden Organ, im Herzen
einer Stadt; ihr Interesse war erregt durch
dieses Haus, als stünde eine riesenhafte Gestalt
vor ihr.
»Sucht Madame jemand?« rief die neugierig
gewordene Concierge und erschien in der Tür
ihrer Loge.
Aber die junge Frau erklärte, sie warte auf
jemand. Sie kehrte zur Straße zurück und kam
dann, da Coupeau auf sich warten ließ,
angelockt wieder und sah sich abermals um.
Das Haus kam ihr nicht häßlich vor. Zwischen
den aus den Fenstern hängenden Lumpen
lachten Stellen voller Fröhlichkeit: eine
blühende Levkoje in einem Blumentopf, ein
Käfig mit Kanarienvögeln, aus dem
Gezwitscher herabklang; Rasierspiegel, die
tief im Schatten das Aufblitzen runder Sterne
hervorriefen. Unten sang ein Tischler,
begleitet vom regelmäßigen Pfeifen seiner
Hobelbank, während in der Schlosserwerkstatt
das Getöse eines taktmäßig schlagenden
Hammers ein lärmendes silberhelles Geläute
veranstaltete. Ferner zeigten an fast allen
offenen Fenstern, auf dem Hintergrund des
undeutlich zu sehenden Elends, Kinder ihre
beschmierten und lachenden Köpfe, Frauen
nähten mit stillem, über die Arbeit gebeugtem
Profil. Das war die Wiederaufnahme des
Schaffens nach dem Mittagessen, mit den
leeren Stuben der außer Haus arbeitenden
Männer, dem wieder in jene tiefe Stille
zurücksinkenden Haus, die einzig und allein
vom Handwerkslärm, einem einlullenden,
immer gleichen, stundenlang wiederholten
Kehrreim, durchbrochen wurde. Der Hof war
allerdings etwas feucht. Hätte Gervaise hier
wohnen können, so hätte sie eine Wohnung
hinten auf der Sonnenseite haben wollen. Sie
war fünf oder sechs Schritte gegangen, sie
atmete den faden Geruch ärmlicher
Behausungen ein, einen Geruch nach altem
Staub und ranzigem Dreck. Da aber die
Schärfe der Färbereiabwässer vorherrschend
war, fand sie,
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