Der Todschlaeger
ihrem Liebhaber gekannt, man
kenne ihre Geschichte; es wäre nicht gerade
anständig, wenn man sähe, daß sie nach kaum
zwei Monaten heirateten.
Auf alle diese guten Gründe antwortete
Coupeau mit einem Achselzucken. Auf das
Viertel pfeife er! Er stecke seine Nase nicht in
anderer Leute Angelegenheiten, da habe er vor
allem viel zu große Angst, sie sich dreckig zu
machen! Na ja, gut, sie habe Lantier vor ihm
gehabt. Was sei denn schon dabei? Sie führe
kein liederliches Leben, sie werde sich in ihrer
Ehe nicht mit anderen Männern einlassen wie
so viele Frauen, und zwar die allerreichsten.
Was die Kinder angehe, so würden sie größer
werden, man würde sie schon erziehen, bei
Gott! Nie werde er eine so beherzte, eine so
gute Frau finden, die mehr gute Eigenschaften
habe. Übrigens sei das nicht alles, sie hätte
sich auf der Straße herumtreiben können, hätte
häßlich, faul und abstoßend sein und eine
ganze Sippschaft verdreckter Kinder haben
können – das würde in seinen Augen nicht
zählen: er wolle sie eben haben.
»Ja, ich will Sie haben«, wiederholte er und
schlug, mit der Faust fortgesetzt hämmernd,
auf sein Knie. »Sie verstehen richtig, ich will
Sie haben ... Dagegen ist nichts einzuwenden,
denke ich?«
Nach und nach wurde Gervaise gerührt. Eine
Schlaffheit des Herzens und der Sinne
überkam sie inmitten dieses rohen Verlangens,
von dem sie sich umschlossen fühlte. Sie
wagte nur noch zaghafte Einwände, die Hände
waren auf ihre Röcke herabgesunken, ihr
Gesicht in Sanftmut getaucht. Von draußen
sandte die schöne Juninacht durch das
halboffene Fenster warmes Wehen, das die
Kerze, deren langer rötlicher Docht blakte,
verstört flackern ließ; in der tiefen Stille des
schlafenden Stadtviertels war allein das
kindische Schluchzen eines Betrunkenen zu
hören, der mitten auf dem Boulevard auf dem
Rücken lag, während ganz in der Ferne hinten
in irgendeinem Wirtshaus eine Geige eine
Gassenhauerquadrille bei irgendeiner
verspäteten Hochzeitsfeier spielte, eine
kristallklare kleine Musik, die rein und zart
wie eine Harmonikaphrase war.
Als Coupeau sah, daß die junge Frau schwieg
und unbestimmt lächelnd mit ihren
Argumenten am Ende war, ergriff er ihre
Hände, zog sie an sich. Sie befand sich in einer
jener Stunden der Hingabe, denen sie so sehr
mißtraute, war besiegt, war zu bewegt, um
irgend etwas abzuschlagen und irgend
jemandem Kummer zu bereiten. Aber der
Bauklempner begriff nicht, daß sie sich
schenkte; er begnügte sich, ihre Handgelenke
zum Zermalmen fest zu drücken, um Besitz
von ihr zu ergreifen. Und sie seufzten beide
auf bei diesem leichten Schmerz, in dem ein
bißchen von ihrer Zärtlichkeit Befriedigung
fand.
»Sie sagen ja, nicht wahr?« fragte er.
»Wie Sie mich quälen!« murmelte sie. »Sie
wollen es also? Nun gut, ja ... Mein Gott, wir
begehen da vielleicht eine große Torheit.«
Er war aufgestanden, hatte sie um die Taille
gefaßt und drückte ihr aufs Geratewohl einen
derben Kuß aufs Gesicht. Da diese Liebkosung
ein lautes Geräusch verursachte, beunruhigte
er sich als erster, schaute auf Claude und
Etienne, trat ganz leise auf und senkte die
Stimme.
»Pst! Seien wir vernünftig«, sagte er, »wir
brauchen die Bengels nicht aufzuwecken ...
Bis morgen.« Und er ging wieder in seine
Stube hinauf.
Über und über zitternd, blieb Gervaise fast
eine Stunde auf dem Rand ihres Bettes sitzen,
ohne daß es ihr in den Sinn kam, sich
auszuziehen. Sie war gerührt, sie fand
Coupeau sehr anständig, denn einen
Augenblick lang hatte sie wirklich geglaubt, es
sei aus damit, er würde hier schlafen.
Unten stieß der Betrunkene unter dem Fenster
den noch heiseren Klageruf eines verirrten
Tieres aus. In der Ferne schwieg die Geige mit
dem Gassenhauerreigen.
In den folgenden Tagen wollte Coupeau
Gervaise dazu bewegen, einen Abend mit zu
seiner Schwester in die Rue de la Goutted'Or
hinaufzukommen. Aber die sehr schüchterne
junge Frau bekundete großes Entsetzen vor
diesem Besuch bei den Lorilleux. Sie merkte
durchaus, daß der Bauklempner eine dumpfe
Angst vor dem Ehepaar hegte. Freilich war er
nicht von seiner Schwester abhängig, die nicht
einmal die ältere war. Mama Coupeau würde
ihre Zustimmung aus vollem Herzen geben,
denn sie widersprach ihrem Sohn nie.
Allerdings nahm man in der Familie von den
Lorilleux an, daß sie bis zu zehn Francs täglich
verdienten, und daraus leiteten sie
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