Der Todschlaeger
Art
darzustellen, wie das bei so vielen Werken mit
schlüpfrigem Beigeschmack der Fall ist. In der
Schilderung des Geschlechtslebens ist er
immer äußerst zurückhaltend, ja geradezu
keusch, ein Gegner aller Verderbtheit, dem
alles rein ist. Sein künstlerisches Verdienst«
im »Totschläger« aber »besteht nicht zuletzt
darin, daß er es gewagt hat, die üblichen
Grenzen des Romans zu sprengen, sich über
die erstarrte Schamhaftigkeit des
geschriebenen Wortes hinwegzusetzen,
abergläubische Gesetze zu verachten und einer
bis dahin verfemten Welt, deren Schilderung
für ruchlos galt, Eingang ins Buch zu
verschaffen. Die Bilder jener Welt hatte er an
Ort und Stelle eingefangen, um sie vor aller
Augen und Sinnen erstehen zu lassen. Den
Dummköpfen und Heuchlern unter seinen
Zeitgenossen hat er die Abgründe gezeigt, wie
sie wirklich sind, und nicht, wie sie sich in
ihrer ahnungslosen, törichten oder
gewissenlosen Vorstellung spiegelten ...
Deshalb verdient Zola unsere Achtung und
Bewunderung ...«
Soweit das Lob des Kritikers für den Mut des
Autors, der gleichsam verbotenes Gebiet
betreten und es der Literatur zugänglich
gemacht hat.
Bliebe noch die Frage zu klären, in welchem
Umfang dieser Vorstoß in eine bis dahin von
der Literatur bewußt oder unbewußt
vernachlässigte soziale Klasse gelang.
Hierauf antwortete Barbusse: Zolas
»Totschläger« war zwar ein Roman über den
Arbeiter von einer bis dahin unerhörten und
unerreichten Offenheit, aber er war kein
Arbeiterroman. Anders ausgedrückt: der Autor
des »Totschlägers« war zwar nicht dem
Beispiel seiner bürgerlichen Kollegen gefolgt
und hatte die Menschen seines Buches nicht
wie exotische Tiere mit indiskreter und
teilnahmsloser Neugierde von ferne studiert,
sondern er hatte sich wirklich mitten unter sie
gestellt, an ihren Sorgen und Freuden
teilgenommen, mit ihnen gelacht, geliebt und
gelitten – aber mit den Augen der Wissendsten
von ihnen die Welt zu sehen und damit ihr
Dasein in seinen sozialhistorischen
Bedingungen und Voraussetzungen zu
begreifen, hatte auch er nicht vermocht. Und
aus dieser für Zola fast unvermeidlichen
Begrenztheit der historischen Position
resultiert notwendig die Begrenztheit in der
Wiedergabe des ergriffenen Gegenstandes.
So war aus dem »Roman über das Volk« und
über »die Sitten der Arbeiter«, der ihre
»Laster, ihren Verfall, ihre moralische und
physische Häßlichkeit aus ihrem Milieu, aus
der dem Arbeiter von der Gesellschaft
bereiteten Lage erklären sollte«, die
Geschichte der Gervaise Macquart geworden,
der Frau aus dem Volke, der Arbeiterfrau. Und
seitenlang bemüht sich Zola im Selbstgespräch
der ersten Skizzierung seines Romans aus
dieser künstlerischen Idee, Niedergang und
Verfall einer Arbeiterfrau zu schildern, eine
wirksame Fabel herauszukristallisieren. Er
möchte seine Heldin durch jede erdenkbare
Krise und jede erdenkbare Schande
hindurchgehen und schließlich in einer
Tragödie enden lassen. Aber alle Einzelheiten,
die ihm aus diesem Lebensweg und aus der
bisherigen, durch die früheren Bände der
»RougonMacquart« Reihe gegebenen
Familiengeschichte zufließen, sind mehr oder
weniger Genrebilder aus dem Arbeiterleben
oder persönliche Ereignisse und Erlebnisse
eines Einzelschicksals. So daß er sich
schließlich selbst enttäuscht eingesteht: » ...
ich kann mich von dieser Plattheit der Intrige
nur durch die Größe und Wahrheit meiner
Bilder aus dem Volksleben retten. Nichts gibt
dem Ganzen so richtig eine plastische Form.
Wenn ich das dumme, platte und dreckige
Leben nehme, muß ich ihm einen starken
bildhaften Ausdruck verleihen. Der Stoff an
sich ist armselig ...« Denn der »Roman über
den langsamen Verfall von Gervaise und
Coupeau, wobei dieser seine Frau mit sich
zieht«, schien Zola allein keinerlei
Ansatzpunkte für eine dramatische Schürzung
des Geschehens zu bieten.
Während der Arbeiten am Entwurf und am
Überblicksplan – Zola hatte sich damit
während seines Urlaubs Auguste 1875 in
SaintAubinsurmer beschäftigt –, ja sogar noch
während der Arbeit an dem bereits nach
Kapiteln geordneten ersten Plan schlug sich
Zola mit der Schwierigkeit herum, einen
dramatischen Effekt oder zumindest einen
dramatischen Schlußeffekt zu finden. Da. er
im »Totschläger« noch nicht wie später im
»Germinal« die objektive gesellschaftliche
Tragik des Arbeiterlebens in den
Weitere Kostenlose Bücher