Der Todschlaeger
ein unglücklicher Zufall, der
jedem Dachdecker zustoßen konnte. Um
Coupeaus nachfolgendes Schicksal aber als
sozial bedingtes notwendiges Ergebnis dieses
unglücklichen Zufalls erscheinen zu lassen,
hätte Zola seine beruflichen und nicht nur
persönlichen Folgen zeigen müssen.
Zola hat – wenn man das Buch als Ganzes
betrachtet und nicht nur die Hauptgestalten
sieht – die soziale Unsicherheit des Arbeiters
nicht verschwiegen. Es gibt weder Kranken
noch Sozialversicherung, ärztliche Behandlung
zu Hause muß vom Kranken selbst bezahlt
werden, es gibt keinen Ausgleich für
Lohnausfall. So ist der Arbeiter entweder
darauf angewiesen, ins Hospital zu gehen,
oder, falls er einige Ersparnisse hat wie
Gervaise und Coupeau, gezwungen, dieses
mühselig zurückgelegte Geld, die Hoffnung
auf einen Notgroschen im Alter, aufzuzehren
und dann wiederum von vorn zu beginnen,
sofern er überhaupt noch arbeiten und
verdienen kann.
Aber die handlungsmäßige Darstellung dieser
sozialhistorisch relevanten Seite seines
Dramas, die Coupeaus und Gervaises
Schicksal eine objektive gesellschaftliche
Tragik verliehen hätte, läßt sich Zola entgehen.
Statt dessen wird in Zolas Roman die rein
persönliche, charakterliche Reaktion Coupeaus
auf dieses von ihm als eine Härte und
Ungerechtigkeit des Schicksals empfundene
Unglück zum Hebelpunkt der weiteren
Entwicklung gemacht: »Der war nicht gerecht,
sein Unfall; das hätte ihm nicht passieren
dürfen, ihm, einem guten Arbeiter, der kein
Faulpelz, kein Säufer war. Bei anderen hätte er
es vielleicht verstanden. – ›Papa Coupeau‹,
sagte er, ›hat sich an einem Sauftage den Hals
gebrochen ... Ich dagegen war nüchtern ...‹«
Und aus dieser Überlegung scheint sich für
Coupeau der Schluß zu ergeben, daß es nichts
nützt, vernünftig zu sein und nicht zu trinken,
wenn einen trotzdem das Unglück treffen
kann. So läßt Zola in ihm eine dumpfe Wut
gegen die Arbeit, gegen seinen Beruf
entstehen, die der Anfang seines Faulenzens,
seiner Kneiptouren und damit seines
endgültigen Absinkens ist.
Um nun Gervaises Verfall als eine notwendige
Folge dieses Verkommens ihres Mannes
erscheinen zu lassen, griff Zola wiederum zur
psychologischen Motivierung. Gervaise ist
kein starker Charakter. Sie vergleicht sich
selbst mit einem Geldstück, das hochgeworfen
wird und zufällig auf diese oder jene Seite
fällt. Sie war zu nachgiebig« einzig bestrebt,
sich und ihrer Umgebung jeden Ärger, jede
Aufregung, jeden Kummer zu ersparen, in
diesem Jammerdasein wenigstens ein kleines
Stückchen Glück und Frieden zu erhaschen,
und sei es auch nur ein Scheinglück, ein
Scheinfrieden. So schließt sie die Augen vor
Coupeaus Saufereien, seinem Herumbummeln,
seiner Geldverschwendung. Und da sie
obendrein ebenso wie Coupeau erblich belastet
ist, scheint es kein Wunder, daß – durch all
diese Umstände nach und nach begünstigt –
zunächst bei Coupeau und gegen Ende der
Katastrophe auch bei Gervaise die alte
Veranlagung zur Trunksucht durchbricht und
beide zu willenlosen Spielbällen dieses Lasters
werden. »Und jetzt fing sie wieder mit dem
Likör an. Oh, sie kannte sich, sie hatte für
keine zwei Heller Willenskraft. Man hätte ihr
nur einen Schubs ins Kreuz zu geben
brauchen, damit sie sich Hals über Kopf in den
Suff stürzte.« Damit aber hatte Zola für alle
ineinandergreifenden, entscheidenden Etappen
des Verfalls dieser Arbeiterfamilie
persönliche, charakterliche Motivierungen
gefunden, nachdem er einen Zufall zum
Drehpunkt der Geschichte gemacht hatte.
So konnte der Eindruck entstehen, als
genügten persönlicher Fleiß, Sparsamkeit und
Bescheidenheit, um dem Arbeiter ein
auskömmliches Dasein zu sichern, d.h. sein
Wohlstand oder sein Elend hinge in erster
Linie von seinem persönlichen Verhalten ab.
Mit dieser seitens des Lesers abhebbaren
Aussage bewegte sich aber die
Romanhandlung auf dem Niveau der sozialen
Klischeevorstellungen der Zeit.
Solange der Hexentrank des Vaters Colombe
aus dem »Totschläger« noch nicht Coupeaus
Sinn benebelt, solange Gervaise umsichtig und
zielstrebig arbeitet, unnötige Ausgaben
vermeidet, nicht genäschig ist und ihre Zeit
nicht verbummelt, so lange geht alles gut. Und
die Goujets mit ihrer beinahe an Stolz
grenzenden Sparsamkeit und Ordnung, die
selbst bei sinkenden Löhnen die wachsende
ökonomische Verelendung durch erhöhte
Einschränkung auszugleichen
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