Der Todschlaeger
Vordergrund
rückte, mußte er versuchen, in den rein
subjektiven Verhaltensweisen der Menschen
zueinander den inneren Kausalzusammenhang
ihres tragischen Schicksals zu erfassen und
darzustellen. Als häufigstes, folglich
naheliegendstes und glaubwürdigstes Drama –
und tausendfach erprobtes literarisches
Erfolgsmuster – erschien ihm daher eine
Eifersuchtsgeschichte, die möglichst mit Mord
und Totschlag enden sollte.
Dazu mußte Gervaise auch nach ihrer
Verheiratung mit Coupeau immer noch Lantier
lieben und auf Adèle, die neue Freundin
Lantiers – sie, nicht ihre Schwester kommt im
ersten Entwurf wieder –, eifersüchtig sein. Als
sie die beiden eines Tages durch die Mithilfe
der Boches und Lorilleux' im Bett überrascht,
wirft sie mit einer Flasche Vitriol nach ihnen.
Da zerrt Lantier, vor Schmerzen halb
wahnsinnig, Gervaise an den Haaren in den
Hof. Und um das Drama vollständig zu
machen, kommt in diesem Augenblick
natürlich der scheue Liebhaber Goujet hinzu,
und um es, wie Zola sagt, »noch grausiger« zu
gestalten, ist Gervaise von Lantier schwanger.
Fürchterlicher Zweikampf der beiden Rivalen
Lantier und Goujet mit Coupeau als
Zuschauer, heimtückischer Fußtritt Lorilleux'
gegen Gervaises Bauch, ein Fußtritt, an dessen
Folgen sie stirbt; ein Versatzstück, das Zola in
abgewandelter Form in der »Erde« benutzt hat.
Es ist in diesen Vorüberlegungen wirklich
alles vorhanden, was diesem geplanten
Abschluß die Pseudodramatik eines
Hintertreppenrührstücks par excellence
verleiht. Jeder Vorstadttheaterdirektor wäre
von der erschütternden »Nüchternheit« dieses
»einfachen Lebens der Gervaise Macquart«
begeistert gewesen.
Zola ist auch nicht so recht wohl bei diesem
Plan. Er will »in der Einfachheit der Fakten,
im normalen Durchschnitt des Lebens«
bleiben. Er will zeigen, wie »Gervaise langsam
von Stufe zu Stufe sinkt, indem sie Coupeau
und Lantier nachgibt, indem sie zu Frau
Fauconnier als Arbeiterin zurückkehren muß«,
nachdem sie es vorher durch Fleiß und
Ausdauer so weit gebracht hat, selbst eine
kleine Plätterei aufzumachen, und wie sie
schließlich »in die Prostitution und die
Trunksucht abgleitet«.
Aber wo ist in dieser Entwicklung der
tragische Knotenpunkt? Wo die Möglichkeit,
das Interesse des Lesers mit einem
aufregenden Geschehen zu packen? Nicht
einmal die genaue Motivierung dieses Verfalls
ist Zola im Entwurf klar. Nach der
Formulierung: »Das Leben in dem kleinen
Laden, Coupeau tut nichts mehr ...« könnte es
scheinen, als habe er Coupeaus, moralischen
Verfall mit dem erreichten bescheidenen
»Wohlstand« und Lantiers Wiederauftauchen
motivieren wollen. Das hätte natürlich mit
einer Begründung seines Schicksals aus
seinem Milieu und Beruf heraus schon
überhaupt nichts mehr zu tun gehabt. Darauf
besinnt sich Zola aber beim Skizzieren seiner
Gestalten: Coupeau soll eine Arbeiterexistenz
verkörpern, anfangs den Typ des netten,
anständigen, guten Arbeiters, der nach und
nach durch das Milieu verdorben wird, dem
Trunk verfällt, mit neunzehn Jahren bereits
physisch und moralisch ein Scheusal ist. Und
Zola ruft sich noch einmal ins Gedächtnis, daß
er »den Einfluß des Milieus« auf ihn studieren
will. Und in diesem Zusammenhang ist ihm
wahrscheinlich der Gedanke gekommen,
Coupeau ähnlich wie seinen Vater durch einen
Berufsunfall auf die schiefe Bahn geraten zu
lassen. Aber damit dies Schicksal noch härter
und unverdienter erscheint, trifft Coupeau das
Unglück ohne jedes persönliche Verschulden,
denn er ist nicht angetrunken wie sein Vater.
Im ersten Entwurf ist dieses Detail, der Sturz
vom Dach, noch nicht zu finden; im
Übersichtsplan wird es bereits kurz erwähnt,
ohne daß Zola deshalb sein Schlußdrama
aufgibt. Erst in der endgültigen Plangestaltung
verzichtet Zola auf diesen melodramatischen
Effekt und läßt den langsamen Abstieg von
Gervaise und Coupeau in unerbittlicher innerer
Kausalreihe abrollen, als deren auslösendes
und damit wichtigstes Moment nunmehr
Coupeaus Sturz vom Dach erscheint, auch
wenn natürlich erst die erblich gegebene
Disposition zur Trunksucht und die
gleichermaßen erblich bedingte charakterliche
Veranlagung der beiden Gestalten die reale
Möglichkeit für das Auslösen dieser Folgen
schaffen.
Coupeaus Sturz vom Dach, der nun zum
Angelpunkt des ganzen Verhängnisses wurde,
lag durchaus in den normalen Gefahren seines
Berufes. Es war
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