Der Todschlaeger
dieses Gegenstandes
aufnimmt? Und »Der Totschläger« sollte nur
ein Sittenbild liefern, nur einen Ausschnitt aus
dem Pariser Arbeiterleben, die soziale, die
politische Seite sollte in dem zweiten Roman
dargestellt werden.
Tatsächlich ist »Germinal« die in eine
menschliche und gesellschaftliche Tragödie
umgesetzte, in literarischer Form vollzogene
»Selbstkritik« Zolas an seinem ersten und –
wie er nun selbst wohl eingesehen hatte –
vielleicht doch nicht alle Seiten seines Themas
erfassenden Buch über das Leben und die
Sitten der Arbeiter. Andererseits hat ihn
zweifellos dieser späte Plan, der ihm schon bei
der Abfassung des »Totschlägers«
vorschwebte, bei seiner Arbeitsweise und
Romankonzeption wirklich daran gehindert,
die ursprünglich ebenfalls vorgesehenen
Szenen, die das Thema geweitet hätten, über
die politische Haltung und Aktion der Massen
und die Arbeiterbewegung auszuführen,
möglicherweise aus Sorge, er müßte sich in
seinem späteren, speziell diesem Aspekt
gewidmeten Roman wiederholen.
Mit diesem Hinweis auf den noch zu
erwartenden »Germinal« gab Zola indirekt zu,
daß »Der Totschläger« tatsächlich nur einen
begrenzten Ausschnitt aus dem Pariser
Arbeiterleben gebracht hatte.
Zweifellos hatte die heftige Kritik Zola die
Augen für diese Einsicht geöffnet: Doch trotz
aller prinzipiellen Berechtigung übersah diese
zeitgenössische Kritik ein zweites:
Bei aller Beschränkung der Aussage und
Motivierung, der nicht genügend
herausgearbeiteten sozialen Seiten dieses
Unglücks, hatte Zola einen Lebensweg
dargestellt, der in seiner Endkonsequenz –
Verelendung, Verzweiflung, schließlich
Absinken in Not und Schmutz –, wenn auch
aus anderen Gründen, anderen Ursachen,
typisch war für das Schicksal, das seiner
Tendenz nach der Kapitalismus für den
Arbeiter prinzipiell bereithielt.
So gesehen wurde das Leben dieser Frau,
deren Verfall Zola mit so viel Einfühlungsgabe
und innerer Anteilnahme in allen Etappen, mit
all ihren Schwächen und Mängeln, aber doch
auch mit all ihren guten, ja rührenden Zügen
gemalt hatte, zu einer erschütternden Tragödie.
Die Vorarbeiten beweisen, wie sehr Zola
gerade die Gestalt der Gervaise am Herzen lag.
Er möchte sie seinen Lesern »sympathisch«
machen, möchte die Leser spüren lassen, daß
sie im Grunde ein prächtiger Mensch ist, »den
die Erziehung hätte entfalten können, der aber
untergeht«. Sie soll eine Frau sein, bei »der
jede gute Eigenschaft zu ihren Ungunsten
ausschlägt: die Arbeit stumpft sie ab, ihre
›Zärtlichkeit‹ verleitet sie zu außerordentlicher
Schwäche«. Sie hat eine schwere Jugend
hinter sich: das abschreckende Beispiel des
groben, faulen und auf Kosten der Familie
lebenden Vaters, das im Rausch Vergessen
suchende Lasttierdasein der Mutter, karge
Bissen, aber dafür harte Schläge, so daß ihr
erster Fehltritt mit dem hübschen, forschen
Gerbergehilfen Lantier und ihre Flucht nach
Paris mit ihm mehr als verständlich sind. Und
als sie so hinterhältig, ja gemein von ihm
verlassen wird, sich mit so selbstverständlicher
Resolutheit an die Arbeit macht, um ihren und
ihrer Kinder Lebensunterhalt zu verdienen, als
sie Coupeaus Anträgen mit soviel
Besonnenheit widersteht und bei ihrem ersten
Zusammensein mit ihm im »Totschläger« ihr
so bescheidenes Lebensideal entwickelt, da
muß der Leser sie liebgewinnen und für ihr
Glück bangen und fürchten. Zumal Zola von
Anfang an in seiner Erzählstrategie das
drohende Unheil vorbereitet durch die ganze
Atmosphäre, durch eine Reihe meist der
Tradition des Trivialromans entnommener
technischer Mittel, die zugleich die
obenerwähnten
Kompositionsschwächen
ausgleichen sollen. Schon das erste Gespräch
zwischen Gervaise und Coupeau ist gleichsam
symbolisch in den »Totschläger« verlegt, der
über ihrer beider Leben soviel Unglück
bringen soll. Und an dem Abend, da Coupeau
um ihre Hand angehalten hat und wieder in
sein Zimmer gegangen ist, grölt wie eine böse
Vorbedeutung unter Gervaises Fenster ein
Betrunkener. Zum Abschluß des
Hochzeitstages trifft das Brautpaar
ausgerechnet den Leichenbestatter Bazouge,
der in seinem Rausch Gervaises Ende
voraussagt: »Eines Tages sind Sie vielleicht
ganz froh, daß Sie drankommen ... Ja, ich
kenne Frauen, die danke sagen würden, wenn
man sie fortschaffte.« Und nach nicht allzu
vielen Jahren ist sie soweit. Das Wasser
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