Der Todschlaeger
und die Anhöhen des
Montmartre zu zeigen. Dann kam Frau
Lorilleux auf den Gedanken zu fragen, ob man
auf dem Boulevard de la Chapelle die
Weinschenke »Moulind'Argent« sehe, in der
man nachher essen würde. Da suchte man zehn
Minuten lang, und man stritt sich sogar; jeder
verlegte die Weinschenke an eine andere
Stelle. Rings um sie erstreckte Paris seine
graue Unendlichkeit, mit den bläulichen
Fernen, seinen tiefen Tälern, in denen eine
Dünung von Dächern wogte. Das gesamte
rechte SeineUfer lag im Schatten unter einem
großen kupferfarbenen Wolkenfetzen, und aus
dem Rand dieser goldgefransten Wolke floß
ein breiter Sonnenstrahl, der die Tausende von
Fensterscheiben auf dem linken Ufer mit
sprühenden Funken entzündete und diese in
Licht gebadete Ecke der Stadt von dem ganz
reinen, vom Gewitter gewaschenen Himmel
abhob.
»Es hat sich nicht gelohnt, heraufzusteigen,
damit wir uns in die Haare geraten«, sagte
Boche wütend und wandte sich wieder zur
Treppe.
Stumm und maulend stieg die
Hochzeitsgesellschaft hinunter, allein die
Schuhe polterten über die Stufen. Unten wollte
Herr Madinier bezahlen. Aber Coupeau erhob
laut Einspruch, legte dem Wärter eiligst
vierundzwanzig Sous, zwei Sous pro Person,
in die Hand. Es war fast halb sechs, man hatte
gerade noch Zeit für den Rückweg. Alsdann
kehrte man über die Boulevards und durch den
Faubourg Poissonnière zurück. Coupeau fand
jedoch, daß der Spaziergang nicht so enden
dürfe; er drängte alle in die hintere Ecke einer
Weinschenke, wo man Wermut trank.
Das Festmahl war auf sechs Uhr bestellt. In
der »Moulind'Argent« wartete man seit
zwanzig
Minuten
auf
die
Hochzeitsgesellschaft. Frau Boche, die ihre
Conciergeloge einer Dame aus dem Hause
anvertraut hatte, unterhielt sich im
Gesellschaftszimmer des ersten Stocks vor
dem gedeckten Tisch mit Mama Coupeau.
Und die beiden Bengels, Claude und Etienne,
die sie mitgebracht hatte, spielten inmitten
eines wilden Durcheinanders von Stühlen
unter dem Tisch Haschen. Als Gervaise beim
Eintreten die Kleinen erblickte, die sie den
ganzen Tag über nicht gesehen hatte, nahm sie
sie auf ihre Knie, liebkoste sie mit
schmatzenden Küssen.
»Sind sie artig gewesen?« fragte sie Frau
Boche. »Haben sie Ihnen wenigstens nicht
allzusehr zugesetzt?«
Und als diese ihr die Bemerkungen dieser
Würmer während des Nachmittags, über die
man sich hätte totlachen können, erzählte,
nahm sie sie abermals hoch und drückte sie an
sich, von rasender Zärtlichkeit ergiffen.
»Für Coupeau ist das immerhin komisch«,
sagte Frau Lorilleux zu den anderen Damen im
Hintergrund des Salons.
Gervaise hatte ihre lächelnde Gelassenheit
vom Vormittag beibehalten. Seit dem
Spaziergang wurde sie jedoch zuweilen ganz
traurig, sie betrachtete mit ihrer
nachdenklichen und vernünftigen Miene ihren
Mann und die Lorilleux. Sie fand Coupeau
feige vor seiner Schwester. Noch am Vortag
hatte er laut geschrien und geschworen, sie
zurechtzuweisen, diese Schlangenzungen,
wenn sie sich an ihr vergehen sollten. Aber
ihnen gegenüber – das sah sie genau – kuschte
er wie ein Hund, lauerte auf ihre Worte und
wußte nicht, wo ihm der Kopf stand, wenn er
glaubte, sie seien verärgert. Und das
beunruhigte die junge Frau ganz einfach im
Hinblick auf die Zukunft.
Mittlerweile wartete man nur noch auf
MeineBotten, der noch nicht aufgetaucht war.
»Ach was!« rief Coupeau. »Gehn wir zu
Tisch. Sie werden ihn gleich eintrudeln sehen;
er hat einen guten Riecher und wittert das
Fressen von weitem ... Hört mal, dem muß ja
spaßig zumute sein, wenn er sich immer noch
auf der Landstraße nach SaintDenis die Beine
in den Bauch steht!«
Sehr erheitert setzte sich die
Hochzeitsgesellschaft alsdann mit lautem
Stühlerücken zu Tisch. Gervaise saß zwischen
Lorilleux und Herrn Madinier, und Coupeau
zwischen Frau Fauconnier und Frau Lorilleux.
Die anderen Gäste nahmen nach Belieben
Platz, weil es immer mit Eifersüchteleien und
Streitigkeiten endete, wenn die Tisch Ordnung
festgelegt wurde. Boche schlüpfte neben Frau
Lerat. RöstfleischBibi bekam Fräulein
Remanjou und Frau Gaudron als
Nachbarinnen. Was Frau Boche und Mama
Coupeau, die ganz am Ende saßen, anbetraf, so
beaufsichtigten sie die Kinder, sie übernahmen
es, ihnen das Fleisch zu schneiden, ihnen zu
trinken einzuschenken, vor allen Dingen nicht
viel Wein.
»Sagt niemand das Tischgebet?« fragte
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