Der Todschlaeger
ein
großes Kind; das Lesen abends ermüde ihn,
dann unterhalte er sich damit, seine Bilder zu
betrachten. Gervaise verweilte sich eine
Stunde lang bei ihrer Nachbarin, die sich
wieder an ihren Klöppelsack an ein Fenster
gesetzt hatte. Sie interessierte sich für die
Hunderte von Nadeln, die die Spitze
festhielten, war glücklich, dort zu sein, und
atmete den guten Sauberkeitsgeruch der
Wohnung, in die diese feine Arbeit eine
andächtige Stille brachte.
Bei näherem Umgang gewannen die Goujets
noch. Sie machten Überstunden und brachten
mehr als ein Viertel ihres vierzehntägigen
Lohnes auf die Sparkasse. Im Viertel grüßte
man sie und sprach von ihren Ersparnissen.
Goujet hatte nie ein Loch in seinen Sachen und
ging mit sauberen Arbeitsjacken ohne jeden
Fleck aus dem Hause. Er war sehr höflich und
trotz seiner breiten Schultern sogar ein wenig
schüchtern. Die Wäscherinnen am Ende der
Straße belustigte es, wenn sie sahen, wie er
beim Vorübergehen die Nase senkte. Er liebte
ihre derben Worte nicht und fand es widerlich,
daß Frauen unaufhörlich Zoten im Munde
führten. Eines Tages jedoch kam er
angetrunken nach Hause. Da hatte ihm Frau
Goujet ohne jeden anderen Vorwurf ein Bild
seines Vaters vorgehalten, ein schlechtes
Gemälde, das ehrfurchtsvoll unten in der
Kommode versteckt lag. Und seit dieser
Lektion trank Goujet nur noch so viel, wie ihm
zuträglich war, ohne jedoch den Wein zu
hassen, denn der Wein ist unentbehrlich für
den Arbeiter. Sonntags ging er aus mit seiner
Mutter, der er den Arm reichte; meistens
führte er sie in die Gegend von Vincennes,
manchmal begleitete er sie ins Theater. Seine
Mutter blieb seine Leidenschaft. Er sprach mit
ihr noch immer, als sei er ganz klein.
Mit seinem Quadratschädel, seinem von der
harten Arbeit mit dem Hammer schwerfällig
gewordenem Fleisch hatte er etwas von einem
großen Tier an sich: schwer von Begriff, aber
trotzdem gutmütig.
In den ersten Tagen machte ihn Gervaise sehr
befangen. In einigen Wochen gewöhnte er sich
dann an sie. Er paßte sie ab, um ihr ihre Pakete
hinaufzutragen, behandelte sie mit jäher
Vertraulichkeit wie eine Schwester und schnitt
speziell für sie Bilder aus. Eines Morgens
jedoch, als er den Schlüssel, ohne
anzuklopfen, herumgedreht hatte, überraschte
er sie dabei, wie sie sich halbnackt den Hals
wusch; und acht Tage lang sah er ihr nicht ins
Gesicht, so daß er sie schließlich selber zum
Erröten brachte.
Schwarzbeer saftjung mit seiner Pariser
Schandschnauze fand Goldmaul blöde. Es sei
ja ganz schön, nicht zu picheln und nicht die
Dirnen auf der Straße anzuquatschen, aber ein
Mann müsse doch ein Mann sein, sonst könne
er ja ebensogut gleich Unterröcke tragen. Er
zog ihn vor Gervaise auf, indem er ihn
beschuldigte, er werfe allen Frauen des
Viertels Blicke zu. Und Goujet, dieser lange
Kerl, verteidigte sich heftig. Das hinderte die
beiden Arbeiter nicht, Kumpels zu sein. Sie
riefen sich morgens, brachen zusammen auf,
tranken manchmal ein Glas Bier vor dem
Heimweg. Seit dem Tauf essen duzten sie sich,
weil das ständige »Sie« die Sätze so lang
machte. Dabei ließ ihre Freundschaft es
bewenden, bis Goldmaul Schwarzbeersaftjung
einen gewaltigen Dienst erwies, einen jener
hervorragenden Dienste, an tue man sich
zeitlebens erinnert.
Es war am 2. Dezember37. Der Bauklempner
hatte aus Ulk den komischen Einfall gehabt,
hinunterzugehen und sich den Aufruhr
anzusehen. Die Republik, Bonaparte und der
ganze Krempel waren ihm höchst schnuppe;
aber er schwärmte nun mal für Schießpulver,
die Gewehrschüsse kamen ihm spaßig vor.
Und beinahe wäre er hinter einer Barrikade
geschnappt worden, wenn sich der Schmied
nicht gerade noch zur rechten Zeit dort
eingefunden hätte, um ihn mit seinem
mächtigen Körper zu schützen und ihn beim
Flitzen zu helfen. Als Goujet wieder die Rue
du FaubourgPoissonnière hinaufging, schritt er
schnell aus mit ernstem Gesicht. Er, er
beschäftigte sich mit Politik, war Republikaner
aus weiser Überlegung heraus, im Namen der
Gerechtigkeit und des Wohles aller. Er hatte
jedoch nicht geschossen. Und er gab seine
Gründe an: das Volk sei es müde, den
Bourgeois die Kastanien auch noch zu
bezahlen, die es für sie aus dem Feuer hole,
wobei es sich die Pfoten verbrenne; Februar38
und Juni39 seien ausgezeichnete Lehren
gewesen; daher würden die Vorstädte von nun
an auch die Stadt allein fertig werden
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