Der Todschlaeger
ansehen,
das Blut erstarre ihr in den Adern, wenn sie
ihren Mann zwischen Himmel und Erde an
Stellen sähe, wo sich selbst die Spatzen nicht
hinwagten.
»Freilich, angenehm ist das nicht«, murmelte
Frau Boche. »Meiner ist Schneider, da brauche
ich nicht zu zittern.«
»Wenn Sie wüßten! In der ersten Zeit habe ich
von morgens bis abends in Angst und
Schrecken gelebt«, sagte Gervaise noch. »Ich
sah ihn immer mit zerschmettertem Kopf auf
einer Tragbahre ... Nun denke ich nicht mehr
so viel daran. Man gewöhnt sich an alles. Das
Brot muß ja verdient werden ... Trotzdem, es
ist ein ganz schön teures Brot, denn dabei
riskiert man seine Knochen öfter, als man
eigentlich an der Reihe ist.« Sie schwieg und
verbarg Nana in ihrem Rock, weil sie einen
Schrei der Kleinen befürchtete. Ganz blaß
geworden, schaute sie unwillkürlich hin.
Coupeau lötete gerade an der Dachrinne den
äußersten Rand des Bleches. Er glitt soweit
wie möglich vor, konnte aber das Ende nicht
erreichen. Da wagte er sich mit jenen
langsamen Bewegungen vor, die Arbeiter an
sich haben und die voller Leichtigkeit und
Schwerfälligkeit sind. Einen Augenblick war
er, ohne sich erst festzuhalten, hoch über dem
Pflaster seelenruhig bei seiner Arbeit. Und von
unten sah man unter dem von sorgfältiger
Hand hin und her bewegten Kolben die kleine
weiße Flamme an der Lötstelle sprühen.
Stumm, die Kehle vor Angst zugeschnürt,
preßte Gervaise die Hände zusammen und hob
sie mit einer mechanischen flehenden Gebärde
hoch. Aber sie atmete geräuschvoll auf. Eben
war Coupeau, ohne sich zu beeilen, wieder
aufs Dach zurückgestiegen und nahm sich
dabei die Zeit, ein letztes Mal auf die Straße zu
spucken.
»Es wird also rumspioniert!« rief er fröhlich,
als er sie erblickte. »Sie hat sich dumm gehabt,
nicht wahr, Madame Boche? Sie hat nicht
rufen wollen. Warte auf mich, ich habe noch
zehn Minuten zu tun.« Er hatte noch einen
Schornsteinaufsatz anzubringen, eine ganz
unbedeutende Kleinigkeit. Die Wäscherin und
die Concierge blieben auf dem Bürgersteig
stehen, unterhielten sich über die
Nachbarschaft und paßten auf Nana auf, um
sie daran zu hindern, im Rinnstein
herumzuplantschen, wo sie Fischchen suchte.
Und immer wieder blickten die beiden Frauen
zum Dach hoch, wobei sie lächelten und den
Kopf schüttelten, um gleichsam anzudeuten,
daß sie nicht ungeduldig wurden. Die Alte
gegenüber war nicht von ihrem Fenster
weggetreten, schaute dem Manne zu, wartete
ab.
»Was hat diese Zicke denn da
auszuspionieren?« sagte Frau Boche. »Eine
elende Visage!«
Oben hörte man die kräftige Stimme des
Bauklempners singen: »Oh, Erdbeernpflücken
ist so schön ...« Nun schnitt er, über seinen
Werktisch gebeugt, kunstgerecht sein Zink.
Mit einer Zirkelumdrehung hatte er einen
Strich gezogen, und mit Hilfe einer krummen
Blechschere schnitt er einen breiten Fächer
aus. Dann bog er diesen Fächer mit leichten
Hammerschlägen in die Form eines spitzen
Pilzes. Zidore hatte sich wieder darangemacht,
die Glut im Kohlenbecken mit dem Blasebalg
anzufachen. Hinter dem Haus ging die Sonne
in einem großen rosenroten Schein unter, der
langsam verblaßte und in Zartlila umschlug.
Und mitten am Himmel hoben sich zu dieser
andachtsvollen Tagesstunde die übermäßig
vergrößerten Silhouetten der beiden Arbeiter
mit dem dunklen Querstrich des Werktisches
und dem seltsamen Umriß des Blasebalgs
gegen den durchsichtigen Hintergrund der Luft
ab.
Als der Aufsatz zurechtgeschnitten war, stieß
Coupeau seinen Ruf aus:
»Zidore, die Kolben!«
Aber Zidore war gerade verschwunden.
Fluchend suchte ihn der Bauklempner mit dem
Blick, rief ihn durch die offenstehende
Bodenluke. Schließlich entdeckte er ihn auf
einem Nachbardach, zwei Häuser weiter weg.
Der Schlingel ging spazieren, kundschaftete
die Umgebung aus, wobei sein dünnes blondes
Haar in der freien Luft flatterte und seine
Augen angesichts der unermeßlichen Weite
von Paris blinzelten.
»Na, so eine Bummelei! Du glaubst wohl, du
bist auf dem Lande!« sagte Coupeau wütend.
»Du bist wie Herr Beranger, du machst wohl
gar Verse! – Willst du mir wohl die Kolben
geben! Hat man je so was gesehen. Auf den
Dächern herumzuschlendern! Bring doch
gleich deine Bekannte mit, damit du mit ihr
techtelmechteln kannst ... Willst du mir die
Kolben geben, du verdammter Waschlappen!«
Er lötete, er rief Gervaise zu: »So, es ist
fertig
Weitere Kostenlose Bücher