Der Todschlaeger
ohne
Bedeutung. Sie würde es ihm wieder einhaken,
sein Herz. Sie wisse, wie Herzen wieder
eingehakt werden: durch Pflege, Sauberkeit,
feste Freundschaft. Und sie legte eine
bewundernswerte Zuversicht an den Tag, war
sicher, ihn allein dadurch gesund zu machen,
daß sie immer um ihn herum war und ihn in
den Fieberstunden mit den Händen berührte.
Sie zweifelte nicht eine Minute. Eine ganze
Woche lang sah man sie auf den Beinen,
wortkarg, andächtig in ihrer Starrköpfigkeit,
ihn zu retten, die Kinder, die Straße, die ganze
Stadt vergessend. Am neunten Tage, an dem
Abend, da der Arzt endlich für den Kranken
bürgte, sank sie mit schlaffen Beinen,
zerschlagenem Rückgrat, in Tränen aufgelöst
auf einen Stuhl. In dieser Nacht willigte sie
ein, zwei Stunden zu schlafen, den Kopf auf
das Fußende des Bettes gelegt.
Coupeaus Unfall hatte die ganze Familie in
Bewegung gesetzt. Mama Coupeau verbrachte
die Nächte mit Gervaise zusammen, aber
schon um neun Uhr schlief sie auf ihrem Stuhl
ein. Frau Lerat machte jeden Abend, wenn sie
von der Arbeit nach Hause ging, einen großen
Umweg, um sich nach dem Befinden zu
erkundigen. Die Lorilleux waren zuerst zwei
bis dreimal täglich gekommen, hatten sich zur
Nachtwache angeboten und sogar einen Sessel
für Gervaise mitgebracht. Dann war es bald zu
Streitigkeiten über die Art und Weise, Kranke
zu pflegen, gekommen. Frau Lorilleux
behauptete, in ihrem Leben genug Menschen
gerettet zu haben, um zu wissen, wie man das
anzupacken habe. Sie beschuldigte die junge
Frau auch, sie anzurempeln und sie vom Bett
ihres Bruders zu vertreiben. Sicher habe
Hinkebein allen Grund, Coupeau trotzdem
gesund machen zu wollen, denn schließlich
wäre er nicht abgestürzt, wenn sie nicht in die
Rue de la Nation gegangen wäre und ihn
gestört hätte. Bloß bei der Art, wie sie mit ihm
umging, sei sie sicher, ihm den Rest zu geben.
Als Gervaise sah, daß Coupeau außer Gefahr
war, hörte sie auf, sein Bett mit soviel
eifersüchtiger Strenge zu bewachen. Nun
konnte man ihn ihr nicht mehr umbringen, und
sie ließ die Leute ohne Mißtrauen näher treten.
Die Familie machte sich im Zimmer breit. Die
Genesung sollte sehr lange dauern; der Arzt
hatte von vier Monaten gesprochen. Nun
schalten die Lorilleux während des lange
anhaltenden Schlafes des Bauklempners
Gervaise eine dumme Person. Damit sei ihr ja
viel gedient, daß sie ihren Mann zu Hause
habe. Im Hospital wäre er noch einmal so
schnell wieder auf die Beine gekommen.
Lorilleux hätte krank sein, sich irgendein
Wehwehchen holen mögen, um ihr zu zeigen,
ob er auch nur eine Sekunde zögern würde, ins
Hospital Lariboisière zu gehen. Frau Lorilleux
kenne eine Dame, die eben herausgekommen
sei; na, morgens und abends habe sie
Hühnchen gegessen. Und zum xten Male
stellten beide wieder die Berechnung auf, was
die vier Genesungsmonate das Ehepaar kosten
würden: zuerst die verlorenen Arbeitstage,
dann der Arzt, die Medikamente, und später
der gute Wein und das nicht durchgebratene
Fleisch. Wenn die Coupeaus bloß ihre paar
Sous Ersparnisse verschlängen, so sollten sie
sich noch ganz schon glücklich schätzen. Doch
sie würden sich in Schulden stürzen, das sei
anzunehmen. Oh, das sei ihre Sache. Vor
allem brauchten sie nicht auf die Familie zu
rechnen, die nicht reich genug sei, um einen
Kranken zu Hause verpflegen zu können. Da
sei Hinkebein eben nicht zu helfen, nicht
wahr? Sie könne es ja wie die anderen machen
und ihren Mann ins Hospital schaffen lassen.
Daß sie noch hochmütig sei, das hatte gerade
noch bei der gefehlt.
Eines Abends hatte Frau Lorilleux die Bosheit,
sie schroff zu fragen:
»Na, und Ihr Laden, wann mieten Sie ihn
denn?«
»Ja«, feixte Lorilleux, »die Concierge wartet
immer noch auf Sie.«
Gervaise blieb die Luft weg. Den Laden hatte
sie völlig vergessen. Aber sie sah die
Schadenfreude dieser Leute bei dem
Gedanken, daß von nun an der Laden futsch
sei. Seit diesem Abend lauerten sie in der Tat
auf Gelegenheiten, um sie über ihren ins
Wasser gefallenen Traum aufzuziehen. War
von einer unerfüllbaren Hoffnung die Rede, so
verschoben sie die Sache auf den Tag, da sie
Chefin sei in einem schönen, zur Straße
gelegenen Geschäft. Und hinter ihrem Rücken
lachten sie sich den Buckel voll. Sie wollte
nicht so häßliche Vermutungen anstellen; doch
die Lorilleux erweckten nun wirklich den
Anschein, als seien sie sehr erfreut
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