Der Todschlaeger
... Ich komme runter.«
Das Schornsteinrohr, dem er den Aufsatz
aufpassen mußte, befand sich in der Mitte des
Daches. Beschwichtigt lächelte Gervaise
weiter, während sie seine Bewegungen
verfolgte.
Nana, die auf einmal durch den Anblick ihres
Vaters runig geworden war, klatschte in ihre
Händchen. Sie hatte sich auf den Bürgersteig
gesetzt, um besser nach, oben sehen zu
können.
»Papa! Papa!« schrie sie aus Leibeskräften.
»Papa! Sieh, doch!«
Der Bauklempner wollte sich vorbeugen, aber
sein Fuß glitt aus. Da rollte er jäh, dumm, wie
eine Katze, deren Pfoten sich verheddern, das
leicht abschüssige Dach hinab, ohne sich
festhalten zu können.
»Himmeldonnerwetter!« sagte er mit erstickter
Stimme.
Und er fiel. Sein Körper beschrieb eine sanfte
Kurve, drehte sich zweimal um sich selbst und
schmetterte mit dem dumpfen Aufschlagen
eines von oben herabgeworfenen
Wäschebündels mitten auf die Straße.
Schreckensstarr, die Kehle von einem lauten
Schrei zerrissen, verharrte Gervaise mit den
Armen in der Luft. Passanten eilten herbei, ein
Menschenauflauf entstand. Völlig verstört und
nicht mehr fest auf den Beinen stehend, nahm
Frau Boche Nana in ihre Arme, um ihren Kopf
zu verbergen und zu verhüten, daß sie hinsah.
Währenddessen schloß die kleine Alte
gegenüber, gleichsam befriedigt, seelenruhig
ihr Fenster.
Vier Männer schafften schließlich Coupeau zu
einem Apotheker an der Ecke der Rue des
Poissonniers; und dort blieb er fast eine Stunde
mitten im Laden auf einer Decke liegen,
während man eine Tragbahre aus dem Hospital
Lariboisière holte. Er atmete noch, aber der
Apotheker schüttelte sacht den Kopf.
Gervaise, die mit tränenverschmiertem
Gesicht, nichts mehr sehend, stumpfsinnig an
der Erde kniete, schluchzte nun
ununterbrochen. Mit einer mechanischen
Bewegung streckte sie die Hände vor,
betastete ganz sanft die Glieder ihres Mannes.
Dann zog sie die Hände wieder zurück und sah
den Apotheker an, der ihr verboten hatte, ihn
zu berühren; und einige Sekunden später
begann sie wieder von vorn, weil sie es nicht
lassen konnte, sich zu vergewissern, ob er
warm blieb, und weil sie glaubte, ihm damit
Gutes zu tun.
Als endlich die Tragbahre eintraf und davon
gesprochen wurde, zum Hospital
aufzubrechen, erhob sie sich wieder und sagte
heftig:
»Nein, nein, nicht ins Hospital! – Wir wohnen
in der Rue Neuve de la Goutted'Or.«
Sosehr man ihr auch auseinandersetzte, daß
die Krankheit sie sehr viel kosten werde, wenn
sie ihren Mann zu sich nach Hause nähme,
sagte sie immer wieder starrköpfig:
»Rue Neuve de la Goutted'Or, ich zeige die
Tür ... Was kann Ihnen das schon ausmachen?
Ich habe Geld ... Es ist doch mein Mann, nicht
wahr? Mir gehört er, ich will ihn haben.«
Und man mußte Coupeau nach Hause bringen.
Als die Bahre durch die Menge getragen
wurde, die sich vor dem Laden des Apothekers
schier erdrückte, sprachen die Frauen aus dem
Viertel lebhaft über Gervaise: sie hinke, dieses
Teufelsweib, aber sie habe trotzdem was auf
dem Kasten; bestimmt werde sie ihren Mann
retten, während die Ärzte im Hospital die
Kranken, um die es allzu schlecht bestellt sei,
eingehen ließen, bloß um sich nicht damit
rumzuärgern, sie gesund zu machen.
Frau Boche war, nachdem sie Nana mit zu sich
nach Hause genommen hatte, zurückgekehrt
und erzählte nun, noch ganz mitgenommen vor
Aufregung, den Unfall mit unendlichen
Einzelheiten.
»Ich wollte gerade eine Hammelkeule holen,
ich stand da, ich habe ihn abstürzen sehen«,
sagte sie immer wieder. »Es ist wegen seiner
Kleinen geschehen, er hat nach ihr sehen
wollen, und plautz! O Gott, o Gott, noch mal
möchte ich keinen abstürzen sehen ... Ich muß
doch meine Hammelkeule holen.«
Acht Tage lang stand es sehr schlimm um
Coupeau. Die Familie, die Nachbarn,
jedermann war darauf gefaßt, ihn jeden
Augenblick abkratzen zu sehen. Der Arzt, ein
sehr teurer Arzt, der sich hundert Sous für den
Krankenbesuch bezahlen ließ, befürchtete
innere Verletzungen. Und dieses Wort rief
großen Schrecken hervor; im Viertel hieß es,
dem Bauklempner sei durch die Erschütterung
das Herz ausgehakt. Allein Gervaise, die von
den Nachtwachen bleich geworden war, zuckte
ernst und entschlossen die Achseln. Ihr Mann
habe sich das rechte Bein gebrochen, das wisse
ja jedermann; man würde es ihm wieder
einrichten, das sei alles. Was das übrige
angehe, das ausgehakte Herz, so sei das
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