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Der Todschlaeger

Der Todschlaeger

Titel: Der Todschlaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlo von der Birke
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... Ich komme runter.«
    Das Schornsteinrohr, dem er den Aufsatz
    aufpassen mußte, befand sich in der Mitte des
    Daches. Beschwichtigt lächelte Gervaise
    weiter, während sie seine Bewegungen
    verfolgte.
    Nana, die auf einmal durch den Anblick ihres
    Vaters runig geworden war, klatschte in ihre
    Händchen. Sie hatte sich auf den Bürgersteig
    gesetzt, um besser nach, oben sehen zu
    können.
    »Papa! Papa!« schrie sie aus Leibeskräften.
    »Papa! Sieh, doch!«
    Der Bauklempner wollte sich vorbeugen, aber
    sein Fuß glitt aus. Da rollte er jäh, dumm, wie
    eine Katze, deren Pfoten sich verheddern, das
    leicht abschüssige Dach hinab, ohne sich
    festhalten zu können.
    »Himmeldonnerwetter!« sagte er mit erstickter
    Stimme.
    Und er fiel. Sein Körper beschrieb eine sanfte
    Kurve, drehte sich zweimal um sich selbst und
    schmetterte mit dem dumpfen Aufschlagen
    eines von oben herabgeworfenen
    Wäschebündels mitten auf die Straße.
    Schreckensstarr, die Kehle von einem lauten
    Schrei zerrissen, verharrte Gervaise mit den
    Armen in der Luft. Passanten eilten herbei, ein
    Menschenauflauf entstand. Völlig verstört und
    nicht mehr fest auf den Beinen stehend, nahm
    Frau Boche Nana in ihre Arme, um ihren Kopf
    zu verbergen und zu verhüten, daß sie hinsah.
    Währenddessen schloß die kleine Alte
    gegenüber, gleichsam befriedigt, seelenruhig
    ihr Fenster.
    Vier Männer schafften schließlich Coupeau zu
    einem Apotheker an der Ecke der Rue des
    Poissonniers; und dort blieb er fast eine Stunde
    mitten im Laden auf einer Decke liegen,
    während man eine Tragbahre aus dem Hospital
    Lariboisière holte. Er atmete noch, aber der
    Apotheker schüttelte sacht den Kopf.
    Gervaise, die mit tränenverschmiertem
    Gesicht, nichts mehr sehend, stumpfsinnig an
    der Erde kniete, schluchzte nun
    ununterbrochen. Mit einer mechanischen
    Bewegung streckte sie die Hände vor,
    betastete ganz sanft die Glieder ihres Mannes.
    Dann zog sie die Hände wieder zurück und sah
    den Apotheker an, der ihr verboten hatte, ihn
    zu berühren; und einige Sekunden später
    begann sie wieder von vorn, weil sie es nicht
    lassen konnte, sich zu vergewissern, ob er
    warm blieb, und weil sie glaubte, ihm damit
    Gutes zu tun.
    Als endlich die Tragbahre eintraf und davon
    gesprochen wurde, zum Hospital
    aufzubrechen, erhob sie sich wieder und sagte
    heftig:
    »Nein, nein, nicht ins Hospital! – Wir wohnen
    in der Rue Neuve de la Goutted'Or.«
    Sosehr man ihr auch auseinandersetzte, daß
    die Krankheit sie sehr viel kosten werde, wenn
    sie ihren Mann zu sich nach Hause nähme,
    sagte sie immer wieder starrköpfig:
    »Rue Neuve de la Goutted'Or, ich zeige die
    Tür ... Was kann Ihnen das schon ausmachen?
    Ich habe Geld ... Es ist doch mein Mann, nicht
    wahr? Mir gehört er, ich will ihn haben.«
    Und man mußte Coupeau nach Hause bringen.
    Als die Bahre durch die Menge getragen
    wurde, die sich vor dem Laden des Apothekers
    schier erdrückte, sprachen die Frauen aus dem
    Viertel lebhaft über Gervaise: sie hinke, dieses
    Teufelsweib, aber sie habe trotzdem was auf
    dem Kasten; bestimmt werde sie ihren Mann
    retten, während die Ärzte im Hospital die
    Kranken, um die es allzu schlecht bestellt sei,
    eingehen ließen, bloß um sich nicht damit
    rumzuärgern, sie gesund zu machen.
    Frau Boche war, nachdem sie Nana mit zu sich
    nach Hause genommen hatte, zurückgekehrt
    und erzählte nun, noch ganz mitgenommen vor
    Aufregung, den Unfall mit unendlichen
    Einzelheiten.
    »Ich wollte gerade eine Hammelkeule holen,
    ich stand da, ich habe ihn abstürzen sehen«,
    sagte sie immer wieder. »Es ist wegen seiner
    Kleinen geschehen, er hat nach ihr sehen
    wollen, und plautz! O Gott, o Gott, noch mal
    möchte ich keinen abstürzen sehen ... Ich muß
    doch meine Hammelkeule holen.«
    Acht Tage lang stand es sehr schlimm um
    Coupeau. Die Familie, die Nachbarn,
    jedermann war darauf gefaßt, ihn jeden
    Augenblick abkratzen zu sehen. Der Arzt, ein
    sehr teurer Arzt, der sich hundert Sous für den
    Krankenbesuch bezahlen ließ, befürchtete
    innere Verletzungen. Und dieses Wort rief
    großen Schrecken hervor; im Viertel hieß es,
    dem Bauklempner sei durch die Erschütterung
    das Herz ausgehakt. Allein Gervaise, die von
    den Nachtwachen bleich geworden war, zuckte
    ernst und entschlossen die Achseln. Ihr Mann
    habe sich das rechte Bein gebrochen, das wisse
    ja jedermann; man würde es ihm wieder
    einrichten, das sei alles. Was das übrige
    angehe, das ausgehakte Herz, so sei das

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