Der Todschlaeger
jeder Gemeinheit
fähig wäre. Aber am nächsten Tage wurde sie
ganz weiß, als sie Fräulein Remanjou erzählen
hörte, wie Frau Boche die Gartenzichorie vor
allen Leuten mit angewiderter Miene unter
dem Vorwand weggeworfen hatte, sie sei Gott
sei Dank noch nicht so weit gesunken, daß sie
sich von Dingen ernähre, in denen andere
herumgepantscht hätten. Und von da an stellte
Gervaise alle Geschenke kurzerhand ein; keine
Literflaschen Wein mehr, keine Tassen Brühe
mehr, keine Apfelsinen mehr, keine Stückchen
Kuchen mehr, nichts mehr. Da hätte man
sehen sollen, was für eine Nase die Boches
machten! Es kam ihnen wie ein Diebstahl vor,
den die Coupeaus an ihnen verübten. Gervaise
sah ihren Fehler ein; denn hätte sie schließlich
nicht die Dummheit besessen, ihnen so viel
zuzustecken, hätten sie auch keine schlechten
Gewohnheiten angenommen und wären nett
geblieben. Nun ließ die Concierge kein gutes
Haar an ihr. Zum Oktobertermin schwatzte sie
dem Hausbesitzer, Herrn Marescot, nicht
enden wollendes Zeug vor, weil die
Wäscherin, die ihre Siebensachen mit
Fressereien durchbringe, mit der Miete einen
Tag im Rückstand war. Und Herr Marescot,
der auch nicht sehr höflich war, trat sogar mit
dem Hut auf dem Kopf in den Laden und
verlangte sein Geld, das man ihm übrigens
sofort verabfolgte. Selbstverständlich hatten
die Boches den Lorilleux die Hand gereicht.
Mit den Lorilleux zechte man jetzt in der
Conciergeloge
inmitten
von
Rührungsausbrüchen über die Versöhnung.
Ohne dieses Hinkebein, die Berge zum
Prügeln gebracht hätte, würde man sich
niemals überworfen haben. Oh, die Boches
kannten sie nun, sie begriffen, wie sehr die
Lorilleux hatten leiden müssen. Und wenn sie
vorüberging, grinsten alle absichtlich unter der
Tür.
Dennoch ging Gervaise eines Tages zu den
Lorilleux hinauf. Es handelte sich um Mama
Coupeau, die jetzt siebenundsechzig Jahre alt
war. Mama Coupeaus Augenlicht war völlig
hin. Auch mit ihren Beinen ging es überhaupt
nicht mehr. Eben hatte sie gezwungenermaßen
ihre letzte Aufwartestelle aufgegeben und
drohte vor Hunger zu krepieren, wenn man sie
nicht unterstützte. Gervaise fand, es sei eine
Schande, daß eine Frau in diesem Alter, die
drei Kinder hatte, so von Gott und den
Menschen im Stich gelassen wurde. Und da
sich Coupeau weigerte, mit den Lorilleux zu
sprechen, und zu Gervaise sagte, sie könne ja
hinaufgehen, ging diese hinauf, im Banne
einer Entrüstung, von der ihr das Herz schwer
war. Oben stürmte sie herein, ohne
anzuklopfen. Nichts hatte sich seit dem Abend
geändert, an dem ihr die Lorilleux zum
erstenmal einen sowenig einladenden Empfang
bereitet hatten. Derselbe verschossene
Wollfetzen trennte die Stube von der
Werkstatt, eine Wohnung wie ein
Flintenschuß, die für einen Aal gebaut zu sein
schien. Im Hintergrund faßte Lorilleux, über
seinen Arbeitstisch gebeugt, die Ösen eines
Stückchens Säule eine nach der anderen mit
der Zange, während Frau Lorilleux vor dem
Schraubstock stand und einen Golddraht durch
das Zieheisen zog. Die kleine Schmiede hatte
im hellen Tageslicht einen rosigen
Widerschein.
»Ja, ich bin's!« sagte Gervaise. »Das wundert
Sie, weil wir spinnefeind sind? Aber ich
komme weder meinetwegen noch Ihretwegen,
wie Sie sich wohl denken können ... Wegen
Mama Coupeau komme ich. Ja, ich komme,
um zu sehen, ob wir sie auf ein Stück Brot und
die Barmherzigkeit von andern warten lassen.«
»Na, so was! So hereinzukommen!« brummte
Frau Lorilleux. »Dazu muß man eine gehörige
Frechheit besitzen.« Und sie drehte ihr den
Rücken zu, sie begann wieder ihren Golddraht
zu ziehen, wobei sie so tat, als nehme sie die
Anwesenheit ihrer Schwägerin nicht zur
Kenntnis.
Aber Lorilleux hatte sein leichenblasses
Gesicht erhoben und schrie:
»Was sagen Sie?« Da er ausgezeichnet
verstanden hatte, fuhr er dann fort: »Wieder
Klatschereien, nicht wahr? Das ist ja nett von
Mama Coupeau, überall ihr Elend
herumzuheulen! – Vorgestern hat sie doch hier
gegessen. Wir hier tun, was wir können. Wir
haben doch keinen Geldsack ... Wenn sie
allerdings zu anderen schwatzen geht, dann
kann sie dort bleiben, denn wir haben Spione
nicht gern.« Er nahm das Stückchen Kette
wieder auf, drehte Gervaise nun auch den
Rücken zu, wobei er gleichsam bedauernd
hinzusetzte: »Wenn jeder monatlich hundert
Sous gibt, dann geben wir auch hundert Sous.«
Gervaise hatte sich
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