Der Torwächter Bd. 1 - Der Torwächter
angefasst, er hatte gemeinsam mit der Mutter Simons Bett in das Atelier getragen und danach die Möbel des Großvaters verrückt. Mit seinem Bruder hatte er kein Wort gewechselt.
Als alles an seinem Platz war, ging die Mutter zu Simon und legte ihm ihren Arm um die Schultern. »Na, zufrieden?«
Simon sah sich in seinem neuen Zimmer um. Der Raum wirkte vollkommen anders als zuvor, gemütlicher und großzügig. Sie hatten das Bett ans Fenster gerückt, beim Aufwachen würde er das Meer sehen können. Der Sessel des Großvaters stand jetzt auf der anderen Seite, gleich neben dem alten Arbeitstisch seines Opas, den Simon als Schreibtisch benutzen wollte. In den Materialschränken befand sich nun seine Kleidung, und auch für die Dinge, die mit dem Möbelwagen kommen würden, hatte er noch Platz. Die Farbe des Vorhangs, den seine Mutter am Morgen genäht hatte, passte perfekt.
Die Mutter stupste ihn an. »Ist schön, oder?«
Simon nickte.
»Kommst du noch mit runter?«
Jetzt schüttelte Simon den Kopf. »Ich bleib hier. Ich bin müde.«
Die Mutter lächelte und küsste ihn auf die Wange. »Dann wünsche ich dir eine schöne Nacht. Du weißt ja: Das, was man nach einem Umzug in der ersten Nacht träumt, das geht in Erfüllung.«
Sie wollte gehen, doch Simon hielt sie zurück. Er umarmte sie fest. »Danke, Mama!«
Seine Mutter war überrascht von Simons Geste und sie genoss den besonderen Moment. Simon spürte, wie groß die Liebe war, die sie für ihn empfand.
Mit einem letzten Gute-Nacht-Gruß verließ seine Mutter den Raum.
Nachdenklich ging Simon ins Bad. Er wusch sich flüchtig und putzte seine Zähne, danach machte er sich in seinem Zimmer für die Nacht fertig. Schließlich setzte er sich in den Sessel des Großvaters. Vielleicht half ihm dieser Platz, seine Gedanken zu ordnen.
Es war nicht das neue Zimmer, das Simon beschäftigte, auch nicht der Streit mit seinem Bruder. Ihn bewegte, was er gefühlt hatte. Am Nachmittag, in Tims Zimmer, war er für einen Moment sicher gewesen, genau zu wissen, was in seinem Bruder vorging. Tims Trauer um seine Freundin war für ihn so greifbar gewesen wie ein Gegenstand, den man in die Hand nehmen und betrachten konnte.
Simon dachte an die letzten Tage zurück. Als er die Hände von Iras Großmutter gehalten hatte, war es das erste Mal geschehen. Danach waren es Iras Gefühle gewesen, die er gespürt hatte. Und jetzt die Gefühle von Tim. Und Tim hatte er noch nicht einmal angefasst!
Draußen vor dem Fenster glitzerte das Meer im Mondlicht. Simon stieß die Fensterflügel auf und atmete tief die kühle Nachtluft ein. Das Geräusch der Brandung vermischte sich mit dem scharfen Zirpen der Grillen, die im Gras neben der Garagenauffahrt hockten. Der Platz vor der Garage war leer, ihr Wagen war fort, der Vater würde erst am übernächsten Tag zurückkehren, gemeinsam mit dem Umzugswagen, der ihre Möbel brachte. Gerne hätte Simon jetzt seinem Vater tausend Fragen gestellt.
An jenem Abend, als er seine Eltern in der Küche belauscht hatte, da hatte sein Vater der Mutter gesagt, dass seine Kraft nachlassen würde. Nachdenklich betrachtete Simon seine Hände. Wuchs stattdessen in ihm jene Kraft heran, von der der Vater gesprochen hatte? Es hing mit dem Ring zusammen, vermutete Simon, jenem Ring, den sein Großvater dem Vater gegeben hatte. Seine Mutter wollte anscheinend nicht, dass er ihn bekam, dass er überhaupt nur irgendetwas erfuhr. Simon merkte, wie er ärgerlich wurde. Er spürte doch, dass etwas anders war! Etwas geschah hier und es geschah mit ihm!
Ein Käuzchen flatterte auf und flog davon. Simons Augen folgten ihm, bis sein Blick an den Lichtern der Stadt hängen blieb. Jetzt, in der Nacht, schien die Stadt näher als bei Tag zu sein. Der goldene Tower leuchtete vor einem Meer aus weißenSternen. Es war ein schöner Anblick, doch Simon musste an die Eishand denken, die an der Fassade des Turmes entstanden war.
Ein lautes Summen ertönte, dann ein Klacken, ein Käfer war gegen einen der offen stehenden Fensterflügel geflogen. Jetzt kroch er über das Glas. Simon stutzte: Das Hinterteil des Käfers unter den dunklen Flügeln glühte, so als würde in dem Tier ein goldenes Licht brennen. Simon beugte sich vor, um es genauer zu betrachten. Doch der Käfer krabbelte weiter hinaus.
Ohne nachzudenken, lehnte sich Simon aus dem Fenster und streckte seine Hände aus, um den Käfer zu fangen. In dem Moment geschah es: Der Teppich unter seinen Füßen rutschte weg und
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