Der Torwächter Bd. 1 - Der Torwächter
und ging leise zum Wasserhahn, um sich ein Glas mit Wasser zu füllen: Simon wusste, sein Bruder reagierte empfindlich, wenn man ihm zu nahe kam.
Ohne ein Wort verließ Tim den Raum. Bald dröhnte laute Musik durch das Haus.
Kurze Zeit später betrat die Mutter die Küche. »Hast du eine Ahnung, was mit deinem Bruder los ist?«
Simon schüttelte den Kopf.
Seine Mutter seufzte und stellte den leeren Teller ab, den sie aus ihrem Büro mitgebracht hatte. Dann schenkte sie sich ein Glas Wasser ein. Dabei warf sie ihm einen gespannten Blick zu. »Und?«
Simon verstand die Frage nicht.
»Na, wie war’s? Hast du deine Freundin getroffen?«
Simon verzog genervt das Gesicht. »Sie ist nicht meine Freundin, und: Ja, ich habe sie getroffen.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter.« Er bereute es, sich nicht rechtzeitig verzogen zu haben.
»Wie sieht sie aus? Ist sie nett? Was habt ihr gemacht?« Seine Mutter ließ nicht locker. »Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!«
Manchmal, dachte Simon, konnte sie echt anstrengend sein.
Noch während er überlegte, was er antworten sollte, wurde die durch das Haus dröhnende Musik lauter. Ärgerlich stellte die Mutter ihr Wasserglas auf dem Tisch. »Jetzt reicht es.« Mit entschlossenem Gesichtsausdruck eilte sie hinaus. Simon folgte ihr.
Im Treppenhaus war die Musik noch deutlicher zu hören, sie dröhnte aus dem Zimmer, das sich Simon bis zum Vortag mit Tim geteilt hatte. Die Mutter lief die Stufen hinauf und klopfte. »Tim!«
Nichts geschah. Sie klopfte noch einmal, diesmal lauter, und als Tim immer noch nicht antwortete, stieß sie ärgerlich die Tür auf. »Tim!« Simon huschte hinter ihr in das Innere desZimmers. Tim lag auf seinem Bett, er starrte an die Decke und hatte noch immer nicht bemerkt, dass seine Mutter und Simon im Raum waren.
»Tim!« Jetzt rief die Mutter laut.
Tim fuhr hoch und starrte überrascht seine Mutter an.
»Mach die Musik aus!«
Simon sah, wie Tim nach der Fernbedienung tastete, die neben ihm lag. Die Musik wurde leiser.
»Hier gibt es noch andere Menschen im Haus, okay? Also nimm Rücksicht!«
Tim verzog genervt das Gesicht. »Mann, bist du spießig.«
Simon spürte, wie die Wut in seiner Mutter aufstieg. »Ach ja? Ich bin spießig? Morgens, wenn du ausschlafen willst, dann müssen alle leise sein! Aber selber nimmst du nicht so ein Stück Rücksicht.« Sie hob ihre Hand und ließ zwischen Daumen und Zeigefinger nur wenig Platz. »So läuft das nicht!«
»Jaja.« Tim warf sich bäuchlings auf sein Bett. »Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?« Und er vergrub seinen Kopf im Kissen.
Einen Augenblick war seine Mutter verblüfft. Simon erwartete, dass sie nun komplett in die Luft gehen würde, doch zu seiner Verblüffung huschte so etwas wie Verständnis über ihr Gesicht. So schnell, wie ihre Wut gekommen war, so schnell war sie auch wieder fort. »Sag Bescheid, wenn du wieder normal bist. Und so lange lass mich bitte arbeiten. Okay?«
Tim grunzte irgendetwas in sein Kissen.
Die Mutter warf Simon ein aufmunterndes Lächeln zu, dann schloss sie die Tür hinter sich.
Entnervt warf sich Tim auf den Rücken. Erst jetzt bemerkte er, dass Simon im Zimmer war. Er stöhnte auf. »Was willst du denn hier?«
Simon antwortete nicht. Gebannt starrte er seinen Bruder an. Er fühlte genau, was in Tim vorging: Simon spürte Wut und Leid. Doch wenn er sich konzentrierte, dann spürte er noch mehr: Trauer. Die Trauer um einen Menschen, den Tim vermisste.
»Deine Freundin hat mir dir Schluss gemacht.«
Simon sprach aus, was er spürte, ohne darüber nachzudenken.
Entgeistert starrte ihn sein Bruder an.
»Stimmt doch, oder?« Simon war plötzlich unsicher geworden. Das Gefühl, zu wissen, was Tim empfand, war mit einem Mal wie weggewischt.
»Los, verzieh dich.« Tim war stinksauer. Es war nicht schwer, das zu bemerken. »Du hast jetzt ein eigenes Zimmer! Also verpiss dich und lass mich in Ruhe!« Er packte Simon, schob ihn zur Tür und stieß ihn hinaus auf den Gang. Bevor er die Tür zuknallte, beugte er sich vor und zischte Simon wütend an: »Wehe, du schleichst mir noch einmal nach!«
17
Der Mond war schon aufgegangen, als Simon endlich alle seine Sachen in das Atelier gebracht und dort verstaut hatte. Seine Mutter hatte ihm geholfen, obwohl sie eigentlich am Schreibtisch arbeiten wollte: Sie schien zu spüren, dass es das Beste war, wenn Simon und Tim diese Nacht nicht mehr in einem Zimmer schliefen. Auch Tim hatte mit
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