Der Torwächter Bd. 1 - Der Torwächter
hatten. Das T-Shirt, das Simon getragen hatte, war schon löcherig.
Simon durchschoss ein furchtbarer Gedanke: Was würde geschehen, wenn die Spinnen ein Loch in die Tüte fressen und sich hier draußen vermehren würden? Schnell rannte er in die Küche und holte mehrere der Müllbeutel, in die er die Kleidertüte steckte, bis sie wie eine Zwiebel von mehreren Häuten geschützt war. Für den Augenblick waren die Tiere gefangen. Doch sie mussten etwas tun.
»Wir müssen sie verbrennen.« Ira war blass. »Feuer. Das ist das Sicherste. Stell dir vor, eine der Spinnen entkommt.«
Simon wollte sich das lieber nicht vorstellen. »Und wo sollenwir das machen?« Sie hatten keinen Ofen und keinen Kamin im Haus, und außerdem würde seine Mutter sicher unangenehme Fragen stellen, wenn sie im Hochsommer ein Feuer anzündeten.
Ira hatte eine Idee. »Ein Stück weiter ist eine Baustelle. Da ist jetzt niemand. Vielleicht finden wir da einen Platz.«
Simon holte Streichhölzer und Spiritus, den er in der Vorratskammer fand, und gab beides Ira. Er selbst nahm vorsichtig die Tüte und trug sie hinaus.
Sie hatten Glück: Als sie die verlassene Baustelle absuchten, entdeckten sie zwischen einem Haufen Gerümpel ein altes Metallfass. Sie rollten es in die Mitte einer freien Fläche, stellten es auf und warfen Holz und Reisig, das sie gesammelt hatten, hinein. Vorsichtig platzierte Simon die Plastiktüte mit den Spinnen auf dem Holz, dann legten sie weitere trockene Zweige obenauf. Zuletzt kippte Simon den Spiritus über den Stapel.
»Bist du bereit?« Er sah Ira fragend an.
Sie nickte und ging ein paar Schritte zurück.
Simon zündete ein Streichholz an. Er wartete, bis es gut brannte, dann warf er es in einem hohen Bogen in die Tonne. So schnell er konnte, rannte er fort. In der gleichen Sekunde schoss eine Stichflamme in die Höhe, das Holz begann zu brennen, und mit ihm verbrannten die Tüte und alles, was darin war.
Stumm sahen sie den Flammen zu. Das Holz, die Kleidung, die Spinnen, alles zerfiel zu Asche.
Als die letzte Flamme erloschen war, gossen sie Wasser aufdie Glut. Qualm wälzte sich aus dem Fass, man würde ihn kilometerweit sehen können. Simon hoffte, dass seine Mutter noch schlief.
Gemeinsam gingen sie zurück zur Straße. Vor der Auffahrt zu Simons Haus blieb Ira stehen. »Ich fahr besser nach Hause. Ich …« Sie stockte hilflos, sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte.
Simon verstand sie. So viel war an diesem Tag geschehen, dass es unmöglich schien, alles in Worte zu fassen. »Wir reden morgen weiter, okay?«
Ira nickte. »Dann geb ich dir auch deine Sachen wieder.« Sie strich über den Stoff seines Shirts, das sie trug, und lächelte.
Er lächelte zurück.
Ira holte ihr Tri-Board hinter dem Stein hervor und sprang darauf. Langsam begann es, den Hügel hinabzurollen. Noch einmal wandte sie sich zu Simon um und winkte, bevor sie sich vorbeugte und den Hügel hinabglitt.
Simon sah ihr lange nach.
Beschwingt drehte er sich um und ging zum Haus hinauf. Er war auf eine eigentümliche Weise glücklich.
Dann fiel ihm wieder ein, was geschehen war.
Kurz überlegte er, der Mutter alles zu erzählen. Sie war aufgestanden, er hörte sie in der Küche singen, als er das Haus betrat. Doch er entschied sich, auf den Vater zu warten. Die Scheune war abgeschlossen, bis zum nächsten Tag würde schon nichts passieren. Jetzt würde er erst einmal den Schlüssel zurück in sein Versteck bringen. Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang Simon die Treppe hinauf.
Er ahnte nicht, was zur gleichen Zeit im Badezimmer geschah: Eine winzige Spinne kroch aus dem Abfluss der Dusche, sie krabbelte über den Rand des Duschbeckens und ließ sich an einem dünnen Faden herabfallen. Behände huschte sie über den Boden. Dann verschwand sie in einer Ritze.
32
Die Nasenflügel weit geöffnet, stand Simon am Fenster und sog den Duft ein, der vom Garten zu ihm aufstieg. Es roch nach Thymian, Oleander und trockenem Gras. Ein leiser Wind strich durch die Bäume. Simon schloss die Augen. Fast war es wie vor einem Jahr, als sie in den Ferien den Großvater besucht hatten. Der Sommer war unglaublich schön gewesen, und der Geruch dieser Zeit hatte sich tief in sein Gedächtnis eingegraben. Simon seufzte. Der letzte Sommer schien unendlich lange her zu sein.
Es war kühler geworden, seit die Sonne über dem Meer untergegangen war. Alle Fenster im Haus waren geöffnet, die Abendluft zog durch die Räume und vertrieb die Hitze des
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