Der Torwächter Bd. 1 - Der Torwächter
»Hallo.« Sie lächelte und ging an seinem Bruder vorbei die Treppe hinauf. Sprachlos starrte Tim ihr nach. Dann sah er Simon, barfuß so wie Ira, mit nassen Haaren und ebenfalls nur mit einem Handtuch umwickelt. Überrascht öffnete Tim den Mund. Simon grinste nur schief und drückte sich an ihm vorbei, um hinter Ira in seinem Zimmer zu verschwinden.
Sie mussten beide lachen, als Simon die Tür geschlossen hatte.
»Möchte wissen, was der jetzt denkt«, sagte Ira grinsend.
Simon konnte sich vorstellen, was Tim glaubte. Der Gedankedaran ließ ihn rot werden. Eilig wies er auf den Schrank. »Du kannst dir was aussuchen.«
Neugierig öffnete Ira die Schranktüren und wühlte ein wenig in seiner Wäsche herum. Simon hätte gedacht, dass sie sich einfach die obersten Sachen nehmen würde, doch sie suchte sich einige Stücke aus. Als sie sich wieder umdrehte und ihn fragend ansah, zeigte er auf den Vorhang. »Dahinter bist du ungestört.«
Sie nickte und ging wortlos auf die andere Seite des Ateliers.
Simon lief zum Schrank, kaum dass sich der Vorhang hinter ihr geschlossen hatte, und zog sich hastig an. Dann kämmte er sich mit seinen Fingern durch die nassen Haare.
»Simon, bist du fertig?«
»Ja.« Er wartete, doch als sie nicht kam, schlug er den Vorhang zur Seite und ging zu ihr auf die andere Seite des Ateliers.
Ira stand unter einem Dachfenster und betrachtete ein Gemälde, das an der Wand lehnte. Sie hatte sich eines seiner Lieblings-Shirts herausgesucht, dazu eine Jeans, die ihr recht gut passte. In seinen Sachen sah sie eigenartig vertraut aus. Und zugleich fremd.
Er trat neben sie, um zu sehen, was sie sich anschaute. Das Bild, das sie betrachtete, zeigte ein Haus in einem Dorf oder einer kleinen Stadt. Auf den ersten Blick sah es so aus, als ob schmutziger Schnee das Dach und die Hauswand bedeckte. Doch als er genauer hinsah, entdeckte er in der grauen Schicht winzige Tiere: Es waren Spinnen. Sie waren dabei, das Haus einzuspinnen, so wie sie die Scheune eingesponnen hatten.
Ira schluckte. »Hat das dein Großvater gemalt?«
Simon nickte. Wortlos rannte er zurück auf seine Seite des Raumes und holte das Skizzenbuch, das er unter dem Kopfkissen versteckt hatte, bevor sie in die Scheune gegangen waren. Hastig blätterte er das Buch durch, bis er die Seite fand, die er gesucht hatte: Es war die Zeichnung des eingesponnenen Hauses, auch dieses Gemälde hatte sein Großvater vorher in seinem Buch skizziert. Doch da war noch mehr. Neben der Skizze entdeckte Simon die genaue Zeichnung einer Spinne. Es gab keinen Zweifel: Es war eines der Krabbeltiere, die sie in der Scheune gesehen hatten.
Er zeigte Ira die Zeichnung. Sie zog erschrocken die Luft durch die Zähne, als sie das Bild sah. Aus der Nähe betrachtet, sah die Spinne einfach eklig aus. Winzige Zähne blitzten unter zwei Stielaugen. Ira schüttelte sich. »Steht da sonst noch was?«
Simon war schon dabei, die Seiten durchzublättern. »In dem Buch sind nur Bilder.«
»Kein Hinweis, was man gegen die Spinnen tun kann?«
Genau einen solchen Hinweis hatte Simon gesucht. Wenn sein Großvater so viele Dinge kannte, warum hatte er nichts dazu aufgeschrieben?
Er stutzte, als er ein anderes Bild sah, es erinnerte ihn an das, was sie gerade erlebt hatten. Die Skizze zeigte einen Mann, der in einem Zimmer vor einer offenen Tür stand, aus der Wind herausschoss. Der Wind war stark, er zerrte an der Kleidung des Mannes.
Was zum Teufel, fragte Simon sich, war gerade eben in der Scheune passiert? Der Wind schien direkt aus der Wand gekommen zu sein, so als ob sich eine Tür geöffnet hätte. Doch da war keine Tür gewesen. Simon hatte keine Erklärung für all das.
»Wovon leben diese Spinnen eigentlich?« Ira betrachtete immer noch das Gemälde seines Großvaters. »So viele Fliegen können sich doch gar nicht in dem Netz verfangen, dass alle Spinnen davon leben können.«
Sie fanden die Antwort, als sie wenig später die Platiktüte betrachteten, in die Simon ihre schmutzigen Klamotten gestopft hatte. Ihm war siedend heiß eingefallen, dass er noch den Schlüssel zur Scheune bei sich hatte und dass sie die verdreckte Kleidung loswerden mussten. Die Tüte lag noch da, wo er sie fallen gelassen hatte. Die Spinnen in ihrem Inneren schienen sich vermehrt zu haben, sie saßen dicht an dicht, und sie hatten damit begonnen, die Kleidung mit einer grauen Schicht aus Fäden zu bedecken. Unter der Schicht sah man sie fressen. Sie aßen, was sie eingesponnen
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