Der Tote am Lido
Pritsche aufgestanden und machte sich an seinenSachen zu schaffen. Lunau schaute in die feindseligen Gesichter.
»Wenn irgendjemand von Joy hört, oder von ihrem Zuhälter, diesem Michael, dann sagt mir sofort Bescheid. Bitte«, sagte Lunau und erkannte, wie sinnlos seine Bitten waren. Immer noch dieselben stumpfen Mienen.
»Kennt jemand den Nachnamen von Michael? Oder eine Handynummer? Hat jemand die Handynummer Joys?«
Der Hüne begann jetzt, Lunau zu schubsen. Dieser wischte beim zweiten Stoß die ausgestreckte Hand des Schwarzen mit einem Unterarmblock zur Seite. Die Bewegung war so schnell gewesen, dass der Mann fast das Gleichgewicht verloren hätte und Lunau überrascht anschaute.
»Nicht anfassen, das mag ich nicht«, sagte Lunau. Einen Moment überlegte sein Gegenüber, ob er es auf eine körperliche Auseinandersetzung ankommen lassen sollte, aber das Duell war zu ungleich. Zwar war Lunau allein, allein gegen ein halbes Dutzend, aber er war weiß und hatte Papiere.
Lunau rannte zum Auto, startete den Motor und versuchte wieder, Amanda zu erreichen, wieder hörte er nur die Mailbox. Als er losfahren wollte, wurde gegen die Seitenscheibe geklopft. Das zu einem strengen Helm gegelte ondulierte Haar Obas leuchtete im Laternenlicht. Lunau öffnete die Beifahrertür.
»Kann ich dich irgendwo hinbringen?«
Oba schüttelte den Kopf. »Sie werden Joy nichts tun?«
Lunau überlegte einen Moment. Darüber durfte er nicht nachdenken. »Joy wird nichts geschehen.«
Oba reichte Lunau ein Schlüsselbund in den Wagen.
»Wozu gehören die?«, fragte Lunau.
»Meseret hatte eine Wohnung. Da wollte er mit Joy einziehen. Vielleicht hat sie sich dort versteckt.«
Die Schlüssel waren neu und gehörten zu modernen Sicherheitsschlössern.
»Wo ist die Wohnung?«
»In Bosco Mesola.«
»Wo ist das?«
»Dreißig Kilometer von hier, Richtung Norden.«
»Und die Adresse?«
Oba zuckte mit den Achseln.
»Am Ende des Ortes ist eine gelbe Reihenhaussiedlung. In der Mitte ist ein Mehrfamilienblock. Da ist die Wohnung.«
15
Sara spürte, wie die Kälte durch ihre Schulterblätter in den Brustkorb kroch, sie spürte den harten Beton an ihren Fersen und am Hinterkopf, die Kanten des Kabelbinders, die sich in ihre Handgelenke schnitten.
Eben war sie noch froh gewesen, dass der Mann sie allein gelassen hatte. Sie hatte alles getan, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. Aber jetzt machte ihr das Alleinsein Angst. Durch die Wand drangen gedämpfte Geräusche. Holzbohlen knarrten, eine Eisenketteschleifte über den rauen Boden, immer lauter, immer näher.
Die Erinnerungen harte, chaotische Splitter: Die Abendsonne, die auf dem Autodach gefunkelt hatte, das Eis am Stiel, das man ihr durchs offene Fenster hingestreckt hatte, der große Panda, der auf der Rückbank saß und sie anzulächeln schien.
Wie oft hatte die Mutter ihr gesagt, sie müsse in Mirkos Nähe bleiben? Wie oft hatte ihre Mutter gesagt, man müsse Niederlagen einstecken können? Konnte Sara aber nicht. Sie ärgerte sich jedes Mal über ihre zu kurzen Arme. Sie geriet so in Rage, dass sie ihren Bruder dafür hasste, dass er längere Arme hatte, Arme, mit denen er fast an jeden Ball kam. Hätte Mirko nicht wieder alle gezwungen, ein Turnier zu spielen, dann hätte Sara sich nicht gelangweilt und wäre nicht zwischen den Umkleiden herumspaziert. Sie hätte nicht den Eisvogel entdeckt, mit seinem blauschillernden Kopf, diesem langen schlanken Schnabel und seinen Schwanzfedern, die bei jedem Hüpfer wippten. Es war seine Schuld.
Nein, das alles war ihre Schuld. Sie wusste es. So wie sie wusste, dass ihre Mutter schreiend durch die Wohnung lief, dass sie mit der Faust gegen die Wand schlug, wie damals, als Papa verschwunden war. Papa. Tot. Im Himmel, sagten sie. Wenn sie starb, würde sie ihn wiedersehen. Und trotzdem wollte sie nicht tot sein. Das war ihr zu unbestimmt, dass »dort drüben« auch ihr Vater sein sollte. Niemand hatte ihr je erklärt, wie es da drüben aussah. Und manchmal dachte sie, »da drüben«gab es gar nicht. Sie wussten ja nicht einmal, war es »drüben« oder »oben«.
Anfangs hatte sie sich nicht zu rühren gewagt. Sie war steif geblieben wie ein Katzenjunges, dessen Mutter es an der Nackenschwarte fasst. Sie hatte sich auf den Beton legen und zudecken lassen. Und als sie die Augen aufschlug, war es so finster gewesen wie vorher. Ich muss nur überleben, dachte sie. Wenn ich überlebe, werde ich meine Mutter wiedersehen.
Der Boden
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